»Hat man ihn je darum gebeten, den Vorfall aus seiner Sicht zu schildern?« erkundigte sich Bruder Meurig besorgt.

»Nein«, gab Gwnda zu. »Ich bin kein Richter.«

Es folgte ein kurzes Schweigen, dann bemerkte Fidelma: »Schade, da? du die Leiche nicht angefa?t hast, um festzustellen, wie lange Mair schon tot war. Das hatte fur uns sehr aufschlu?reich sein konnen.«

Gwnda lachte finster. »Einzig die Schuld des Jungen.«

»Das ware aber zumindest etwas gewesen, an dem man sich orientieren konnte, nicht wahr?« erwiderte Fidelma kuhl.

Bruder Meurig rieb sich das Kinn. »Jeder hier scheint den Jungen als Morder zu verurteilen, ohne ihn nach seiner Sicht des Vorfalls befragt zu haben. Warum soll er das Madchen denn getotet haben?«

»Das ist leicht zu beantworten«, entgegnete Gwnda. »Das Madchen hat ihn zuruckgewiesen. In einem Rausch ungezugelter Leidenschaft hat er sie vergewaltigt, und dann, als ihm seine Tat bewu?t wurde, hat er sie getotet. Ich hatte gedacht, euch ware das klar.«

Diese Antwort hatte Fidelma erwartet. »Konnen wir denn gewi? sein, da? Mair als pflichtbewu?te Tochter, wie du uns ja versichert hast, Idwals Annaherungsversuche abwies, vorausgesetzt, er hat uberhaupt welche unternommen?«

Gwnda blickte sie geringschatzig an. »In meinem Volk wirst du nicht willkommen sein, wenn du denjenigen etwas unterstellst, die sich nicht mehr verteidigen konnen.«

Fidelmas Miene blieb ungeruhrt. »Es tut mir leid, wenn du meinst, da? ich das tue, Gwnda von Pen Caer. Ich habe meine Worte nicht leichtfertig gewahlt, und ich denke, da? Bruder Meurig seine Nachforschungen anstellt, um die Wahrheit zu ermitteln. Um der Wahrheit willen mussen Fragen gestellt und Antworten gegeben werden.«

Bruder Meurig erhob sich. »Da stimme ich Schwester Fidelma zu. Es sieht so aus, als seien wir genau zum rechten Zeitpunkt hier eingetroffen. Aber es ist inzwischen schon spat, und wir mussen noch ein Nachtlager finden.«

»Naturlich seid ihr in meinem Hause herzlich willkommen«, sagte Gwnda. Er versucht hoflich zu erscheinen, hatte er doch bemerkt, da? Meurig Fidelmas Position bezog.

»Wir nehmen deine Gastfreundschaft gern an«, erwiderte Bruder Meurig im Namen aller.

»Sollte es euch an etwas fehlen, so teilt es Buddog mit. Ich habe keine Frau mehr, und meine Tochter ist noch zu jung, um den Anspruchen der Fuhrung dieses Haushalts nachzukommen. Ich habe vor, Iorwerth wegen der Schande zur Rechenschaft zu ziehen, die er heute abend uber Pen Caer gebracht hat.«

»Ehe wir uns zur Nachtruhe begeben, wurden wir gern noch mit Idwal reden«, sagte Fidelma rasch.

»Buddog wird euch zu dem Stall bringen, in dem man ihn gefangenhalt. Drau?en ist es schon stockdunkel.«

Kapitel 6

Buddog wartete mit einer Laterne an der Tur. Sie hielt das Licht in ihren starken, zupackenden Handen, als sie die drei uber den Hof zu den dunklen Stallen fuhrte. Fidelma kam der fluchtige Gedanke, da? die Hande nicht so recht zu der hubschen Frau pa?ten, denn sie waren von der vielen Arbeit grob und schwielig. Buddog wirkte weder zuganglich, noch war sie sonderlich freundlich zu ihnen. Sie redete nur, wenn man sie ansprach, und dann tat sie das eher einsilbig.

»Fuhrst du schon lange diesen Haushalt, Buddog?« fragte Fidelma freundlich, als sie den Hof uberquerten.

»Nein.«

»Erst seit ein paar Wochen?« Fidelmas Stimme klang ein wenig belustigt. Ungenaue Antworten waren ihr zuwider.

Die Haushalterin pre?te die Lippen fester aufeinander.

»Ich bin seit zwanzig Jahren in diesem Hause.«

»Das ist eine lange Zeit. Also hast du schon als junges Madchen hier gearbeitet?«

»Man hat mich als Geisel hergebracht«, erwiderte Buddog. »Ich stamme aus Ceredigion.«

Nun hatten sie die Stalltur erreicht. Buddog war stehengeblieben, ihre Hand lag auf dem Schnappriegel.

»Du wirst die Laterne brauchen, Bruder«, sagte sie zu Meurig. »Ich kenne den Weg im Dunkeln uber den Hof, ich finde schon zuruck.«

Bruder Meurig nahm ihr die Laterne ab.

Sie zogerte und sagte dann leise, aber recht aufgewuhlt, zu dem Richter: »Wenn der Junge Mair umgebracht hat, so hat sie den Tod auch verdient!«

Daraufhin wandte sie sich um und verschwand als Schatten in der Nacht.

Vor Uberraschung schwiegen alle, dann sagte Fidelma: »Ich glaube, Bruder, da? du Buddog bitten mu?t, dir das naher zu erlautern.«

Bruder Meurig seufzte leise. »Zweifellos, Schwester. Sie wirkte ziemlich erregt.«

Sie fanden Idwal in dem leeren Stall angekettet. Als sie naher traten, zog er sich wie ein angstliches Tier in die entfernteste Ecke zuruck. Weit konnte er sich nicht fortbewegen, denn man hatte ihm die Kette um das Fu?gelenk geschlungen und ihm die Hande auf den Rucken gebunden. Der Anblick stie? Fidelma ab, und sie rumpfte die Nase.

»Mu? er auf diese Weise festgehalten werden?« fragte sie.

Doch Bruder Meurig war dagegen, ihm die Fesseln abzunehmen. »Falls der Junge ein Morder ist, gibt es keinen Grund, ihn freizulassen. Er richtet moglicherweise noch mehr Unheil an.«

»Falls! Und falls er kein Morder ist?« fragte Fidelmamit Nachdruck.

»Die Zeugenaussagen, die wir bisher gehort haben, scheinen diese Moglichkeit eher auszuschlie?en«, erwiderte Bruder Meurig verargert daruber, da? sie seine Meinung anzweifelte.

»Bisher haben wir aber nur einen Teil der Zeugen vernommen«, erwiderte Fidelma.

Bruder Meurig wurde ungeduldig. Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen, und nun war er mude. »Schon gut. Ich werde mit Gwnda sprechen, sobald wir hier fertig sind.«

Er machte einen Schritt nach vorn, und Idwal stie? einen tierahnlichen Schrei aus und verkroch sich. Er zog den Kopf ein, als erwarte er, geschlagen zu werden.

Fidelma legte eine Hand auf Bruder Meurigs Arm. »Mit deiner Erlaubnis wurde ich ihn gern befragen, Bruder Meurig. Ich wei?, da? ich nur als Beobachterin hier bin und da? dies deine Gro?zugigkeit uber Gebuhr beansprucht, doch auf Fragen, die von einer Frau gestellt werden, antwortet der Junge vielleicht eher.«

Bruder Meurig wollte schon etwas dagegen einwenden. Er hatte langsam das Gefuhl, da? sich Fidelmazu sehr in seine Amtsgeschafte einmischte, doch er war auch so klug, zu spuren, da? sich der Junge einer Frau gegenuber womoglich wirklich eher offnen wurde. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, mit der Befragung zu beginnen, und lie? sich auf einem Strohballen in der Nahe nieder. Eadulf tat es ihm gleich. Fidelma griff sich einen dreibeinigen Melkhokker und setzte sich neben den Jungen.

»Dein Name ist Idwal, stimmt das?« erkundigte sie sich freundlich.

Der Junge starrte sie mit weit aufgerissenen Augen angstlich an. Fidelma wurde schnell klar, da? Idwal nicht zu den aufgewecktesten Burschen gehorte, sondern eher etwas begriffsstutzig war. Doch vor allem furchtete er sich.

»Ich will dir nicht weh tun, Idwal. Es gibt da nur ein paar Fragen, die ich dir stellen mu?.«

Der Junge schaute ihr ins Gesicht, als suchte er darin etwas zu lesen. »Sie haben mir weh getan«, flusterte er. »Sie wollten mich umbringen.«

»Wir werden dir nichts tun, Idwal.«

Der Junge wirkte unentschlossen. »Du bist nicht eine von uns, von den Kymren?«

»Ich bin eine Gwyddel.« Sie benutzte das Wort, das die keltischen Bewohner aus Wales fur eine Irin gebrauchten.

Idwal blickte prufend an ihr vorbei zu Bruder Meurig und zu Eadulf hinuber.

»Bruder Meurig ist Richter und mochte gern wissen, was man dir vorwirft. Er hat mich gebeten, mit dir zu

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