»So lange er die richtigen Fragen stellt, kann der Fall rasch abgeschlossen werden. Niemand kann ihm vorschreiben, wie er die Antworten zu bewerten hat. Wir mussen uns auf unseren Auftrag konzentrieren. Je eher wir ihn erledigen, desto fruher konnen wir nach Canterbury Weiterreisen.«
Nun schwiegen beide.
Der Weg von Llanwnda zum Kloster Llanpadern war angenehm, sie mu?ten kaum mehr als drei Meilen zurucklegen. Bald konnten sie den gesamten Klosterkomplex am Fu?e des Berges erkennen, den Bruder Meurig Carn Gelli genannt hatte. Alles wirkte wie ausgestorben; auch wenn Fidelma nicht gewu?t hatte, da? die Klostergemeinschaft verschwunden war, so hatte sie schon allein anhand der Atmosphare, die hier herrschte, gemerkt, da? etwas nicht in Ordnung war. Jene unerklarliche Aura der Einsamkeit hatte etwas Bedrohliches. Fidelma hatte ein feines Gespur fur die Ausstrahlung, die von Dingen ausging. Vielleicht war genau das der Grund fur ihren Erfolg. Sie hatte die Gabe, zu erkennen, wann jemand log. Und deshalb fuhlte sie sich ein wenig schuldig. Sie hatte gern Mairs Fall ubernommen, denn sie spurte, da? Idwal die Wahrheit gesagt hatte.
Sie ritten weiter auf das Kloster zu. Als sie am Tor angelangt waren, beugte sich Eadulf nach vorn und stie? mit der Hand dagegen. Die Torflugel waren von der Innenseite her nicht gesichert und offneten sich. Der Klosterhof lag da wie leergefegt. Eadulf brachte sein Pferd zum Stehen. Sofort fiel ihm der riesige Holzsto? ins Auge, der offensichtlich fur ein gro?es Feuer aufgeschichtet worden war. Fidelma lenkte ihr Pferd zu einem Pflock, stieg ab und band die Zugel daran fest.
Ungewollt uberkam Eadulf ein Zittern, als sein Blick uber die Gebaude schweifte. Fidelma bemerkte seine Angst, sagte aber nichts. Dinge, die nicht offen sichtbar waren, erweckten keine Furcht in ihr. Nur Dinge, die wirklich existierten, materiell und korperlich, waren gefahrlich. Sie wartete, bis sich Eadulf vom Pferd geschwungen hatte, ehe sie langsam zum Tor zuruckschritt. Den Blick hielt sie dabei auf den Boden gerichtet. Eadulf folgte ihr. Sie schaute zu ihm auf.
»Hier sind zu viele Spuren. Sie deuten auf ein gro?es Kommen und Gehen hin, und au?erdem hat es in den letzten Tagen geregnet, so da? alles verwischt ist, was uns an dieser Stelle uber die Vorgange hier aufklaren konnte.«
»Du traust wohl Bruder Cyngar nicht? Er hat doch auch genau hier nach einem Hinweis gesucht, wie die Monche das Kloster verlassen haben konnten«, sagte Eadulf.
»Ich nehme an, da? seine Aussage von seinem Standpunkt aus stimmt. Aber es ist immer gut, zu uberprufen, ob sie mit deinen eigenen Erkenntnissen ubereinstimmt. Hier werden wir nichts finden. Siehst du den Weg, den wir von Llanwnda gekommen sind? Und siehst du den Weg Richtung Westen? Beide sind ziemlich steinig. Wir werden auf beiden kaum Spuren entdecken.«
Sie schlossen die hohen Torflugel wieder und betrachteten nachdenklich die Gebaude.
»Wenn das Kloster wirklich von plundernden Angelsachsen heimgesucht wurde«, sagte Eadulf, der wohl Fidelmas Gedanken lesen konnte, »so haben sie sich recht anstandig verhalten, alles sauber und unversehrt gelassen. Nichts zerstort, nichts verbrannt, keine Leichen .«
»Dewi, der Junge aus dem Nachbarort, sagte aber, da? man am Strand, wo das Schiff der Angelsachsen vor Anker gegangen sein soll, Tote gefunden hatte«, entgegnete Fidelma. »Nun, wo wollen wir anfangen? Irgendwo mu? es einen Hinweis darauf geben, was hier passiert ist.«
Eadulf schien nicht davon uberzeugt. »Was ist eigentlich, wenn das, was hier vorgefallen ist, unerklarlich ist?« murmelte er.
Fidelma lachte leise.
Eadulf erkannte die Zeile aus
Fidelma ging bereits auf eine Tur zu, die offenbar zu den Schlafsalen der Klosterbruder fuhrte, und offnete sie.
Sie warfen zunachst nur einen fluchtigen Blick hinein und fanden, wie Bruder Cyngar zuvor, die Betten ordentlich und sauber vor. Das gleiche traf auch auf die Zelle des Klostervorstehers zu.
Als sie das dustere und verlassene Refektorium betraten, wurde Eadulf von dem Gestank verdorbener Essensreste beinahe schlecht. Auf den Tischen faulten die Speisen vor sich hin.
»Mussen wir hier rein?« fragte er leise und hielt sich die Nase zu, wahrend Fidelma entschlossen weiter hineinging.
Sie blickte ihn tadelnd an. »Wenn wir hinter das Geheimnis kommen wollen, mussen wir in der Lage sein, alles zu untersuchen, damit uns auch nicht das kleinste Detail entgeht.«
Widerwillig folgte Eadulf Fidelma, die langsam zwischen den Tischen entlangschritt, auf denen die Uberreste des letzten Mahls der Klostergemeinschaft von Llanpadern standen. Es war deutlich, da? sich, nachdem die Monche fort waren, noch jemand uber die Speisen auf den Tischen hergemacht hatte. In das verschimmelte Brot und den verfaulten Kase hatten sich die scharfen Zahne von Nagetieren gebohrt. Doch Fidelma richtete ihr Augenmerk auf etwas anderes.
Sie untersuchte die Messer und Loffel, die meist sorgfaltig zur Seite gelegt worden waren. Ein Messer steckte immer noch in einem Brotlaib. Auf der Erde entdeckte sie ein Fleischmesser. Dort lag au?erdem eine Platte, auf der sich, den Resten nach zu urteilen, ein Bratenstuck befunden haben mu?te. Jemand hatte die Platte vom Tisch gesto?en und dabei noch andere gefullte Teller mitgerissen. Fidelmas scharfes Auge bemerkte in einiger Entfernung einen Schulterknochen. Dann schweifte ihr Blick wieder zu dem Messer zuruck. Dessen leicht rostige Schneide war verfarbt, es war getrocknetes Blut daran.
Fidelma buckte sich, hob das Messer auf und betrachtete es eingehend. Wenn das bei Tisch gereichte Fleisch nicht besonders roh gewesen war, mu?te das Blut von woanders herstammen. Aber woher?
»Eadulf, kannst du eine Kerze holen und sie anzunden?«
Trotz des hellen Tageslichts drau?en war es im Refektorium ziemlich dunkel.
Eadulf sah sich um. Von den Kerzen waren nur kleine Talghaufchen geblieben. Bruder Cyngar hatte ihnen berichtet, da? die Kerzen, zumindest die meisten, bei seinem Eintreffen im Kloster noch gebrannt hatten. Da entdeckte Eadulf eine Kerze, die aus ihrem Stander gekippt war. Er griff nach seiner Zunderbuchse, die er stets bei sich trug: eine kleine runde Metallbuchse, ungefahr sieben Zentimeter im Durchmesser. Darin befand sich unter anderem anstelle von Holzspanen ein angekohltes Stuck Leinen, denn seiner Ansicht nach lie? sich Leinen leichter entzunden als Holz.
Mit der linken Hand nahm er ein Stuck Metall aus der Buchse und hielt dessen glatte Kante an das Leinen. Dann wetzte er mit der rechten Hand den Feuerstein an dem Metallstuck. Winzig kleine Funken spruhten auf den Stoff, der sofort Feuer fing. Nun hielt er einen getrockneten Rohrkolben, den er in Schwefel getrankt hatte, an das qualmende Leinen. Der Rohrkolben ergluhte. Jetzt konnte er die Kerze anzunden und sie zu Fidelma hinubertragen.
Der ganze Vorgang hatte ein wenig Zeit in Anspruch genommen, doch Fidelma hatte geduldig gewartet. Es war ihr nichts anderes ubriggeblieben, denn alle Kerzen waren naturlich inzwischen erloschen. Gewohnlich fand man immer irgendwo eine Laterne oder ein Feuer vor und konnte sich den langwierigen Proze? des Feuerschlagens sparen.
Dank des hellen Scheins der Kerze war Fidelma nun in der Lage, die Messerklinge genauer zu untersuchen. Sie holte tief Luft.
»Was hast du?« wollte Eadulf wissen.
»Hier wurde offenbar eine Menge Blut vergossen. Soviel Blut kann nicht vom Schneiden des Bratens stammen. Jemand wurde damit erstochen.« Sie zeigte auf das Messer in ihrer Hand.
Plotzlich verstummten sie, denn aus dem dunklen hinteren Teil des Refektoriums war ein Gerausch zu ihnen gedrungen, ein leises Knurren. Langsam wandte Eadulf seinen Kopf in die Richtung.
Zwei Augen gluhten ihm wie Kohlenstuckchen entgegen. Er konnte nur einen dunklen, runden Kopf erkennen.
Das Knurren wurde lauter.
Eadulf lehnte sich vorsichtig gegen einen der Tische und tastete nach einer Waffe. Er lie? den Blick nicht von den hollenfarbenen gluhenden Augen. Die Kreatur schien sich in die Ecke zu verkriechen und jede Bewegung der