„Nein. Es existiert hier eine Bibliothek, meist handgeschriebene Manuskripte von Leuten, die schon fruher hier herunter gerieten. Bert kann diese Manuskripte nicht selbst verfa?t haben, es sind zu viele. Es durfte sich um zuverlassige Unterlagen handeln. Ich glaube, ich habe nun ein wahrheitsgetreues Bild der Situation.“
„Und was konntest du uber Joey in Erfahrung bringen?“
Ich zogerte ein wenig. Zwar kam diese Frage nicht unerwartet, und ich hatte meine Luge geschickt zurechtgebastelt, doch fiel es mir sehr schwer, Marie anzulugen. Immerhin, es geschah um einer guten Sache willen, und ich setzte schon zum Schreiben an, doch ihr war mein kurzes Zogern nicht entgangen, oder vielleicht nur der Ausdruck, der damit einher ging. Fur einen talentierten Mimen habe ich mich ohnehin nie gehalten.
„Du hast also etwas von ihm erfahren, ja?“
Ich nickte.
„Und er ist — ist…“
Sie hielt mitten im Satz inne und beobachtete mich durchs Panzerglas. Auch auf diese Frage hin nickte ich. Das war einfacher, als eine faustdicke Luge aufzuschreiben.
Mehr als ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, doch konnte ich mir dazu die geballten Fauste gut vorstellen. Ja, ich zuckte zusammen, als sie mit der einen gegen die Wand hieb und eine schmerzhafte Schallwelle sich im Raum ausbreitete. Dann kam wieder ihre Stimme.
„Ich hatte recht. Er wollte sich nicht verkaufen.
Er wollte nicht die Grundsatze eines anstandigen Menschen aufgeben, und deswegen hat man ihn getotet.“
„Warum hatte man ihn so aus dem Weg schaffen sollen?“ hielt ich dagegen. „Das hatte man einfacher haben konnen, als er noch drinnen war, was ja der Fall gewesen sein mu?, als sie mit ihm redeten, falls du recht hast. Man hatte ihn ersticken oder verhungern lassen konnen — etwas, das man dir auch nicht angetan hat —, als seine Vorrate ausgingen. Man hatte das Boot auf diese Weise nicht opfern mussen.“
„Ganz einfach. Weil man wollte, da? der Tod drau?en eintritt, wahrend er noch im Boot ist, damit es dann bei der Suche wie ein richtiger Unfall aussieht. Mich wundert nur, da? du daran nicht gedacht hast.“ Wenigstens sagte sie nicht ›nicht einmal du‹.
„Sei nicht albern. Wen hatte es denn gewundert oder argwohnisch gemacht, wenn man bei einer Suche nichts gefunden hatte? Der Pazifik erstreckt sich uber eine Riesenflache und beinhaltet eine Riesenwassermenge.“
Ein schieres Wunder, da? sie darauf keine Antwort parat hatte und eine Weile gar nichts sagte.
Als sie wieder zu reden anfing, lie? sie das Thema Joey zunachst links liegen und erkundigte sich danach, was ich in der Bibliothek in Erfahrung gebracht hatte.
XXI
Es dauerte lange, aber ich tat mein Bestes. Sie las jede Zeile sehr sorgfaltig durch, nickte hin und wieder und stellte manchmal eine Frage. Ich beantwortete sie so, wie mein Wissen es zulie?.
Etwa die Halfte der Fragen befa?te sich damit, wie stark ich mich bei meinen Informationen auf Joey stutzte. Es dauerte uber eine Stunde, bis ich ihr ungefahr dasselbe Bild entworfen hatte, das ich mir selbst gebildet hatte.
Ich schlo? mit der Bitte, die den Schlussel des gesamten Planes darstellte:
„Marie, du mu? t zuruck an die Oberflache und all das berichten. Was auch immer Bert uber dein Bleiben gesagt haben mag, die Behorde mu? alles erfahren. Bert und ich werden auf eigene Faust zuruckgehen, und an Joey brauchst du nicht mehr zu denken.“
„Bert? Warum sollte der wohl zuruckwollen? Ich wei?, da? er bleibt. Er hat es zugegeben. Er will tun, was er mochte, ohne Rucksicht auf andere.
Und mich wollte er auch dazu uberreden, dieser Dreckskerl. Die Tatsache, da? er hier bleibt, ist der einzige Grund, warum ich mir deinen Vorschlag uberhaupt anhore.“
„Das glaube ich nicht von ihm“, schrieb ich. „Er sagte mir, er bliebe auch, deutete aber an, da? es nicht fur immer ware. Ich hatte das Gefuhl, er hatte hier mitgemacht, um herauszufinden, was wir wissen mussen, und ware zuruckgekommen, wann und — falls er konnte — wie ich.“
„Von dir kann ich es glauben.“ Sie dachte nach, wahrend ich meinem eigenen Herzschlag lauschte.
Das war das Ermutigendste, das sie jemals mir gegenuber geau?ert hatte, und ich fuhlte mich um so elender wegen meiner Luge. Ich mu?te mir mehrmals vorsagen, da? es um ihrer eigenen Sicherheit willen geschah.
Ihre Sicherheit war jedenfalls nicht Maries Hauptsorge. Das machte sie in den nachsten Minuten deutlich. Als sie wieder zu sprechen anfing, war es klar, da? sie in aller Eile Plane entworfen hatte.
„Gut“, sagte sie. „Ich werde gehen, obwohl ich noch immer nicht glaube, da? man mich gehen lassen wird. Sicher wird es irgendeinen Unfall geben. Ich habe aber eine Idee, wie wir feststellen konnen, wer von uns recht hat.“
Ich sah sie fragend an.
„Du scheinst zu glauben, da? man mich gehen lassen wird, damit ich der Behorde Bericht erstatte, und da? die Umwandlung, die man an dir und Bert vornahm, wieder ruckgangig gemacht werden kann. Da? du zuruckgehen und wieder Luft atmen kannst? Richtig?“ Ich nickte. „Schon. Ich jedenfalls glaube davon kein Wort. Um die Wahrheit herauszufinden, brauchst du nur davonzuschwimmen und Bert zu sagen, da? ich zuruckgehe, wenn er mich in meinem Boot begleitet. Wenn er will, kann er ja nachher wieder zuruck. Ich werde mich von seinem Gerede erst uberzeugen lassen, wenn ich ihn wieder Luft einatmen sehe, und ich werde mich viel sicherer fuhlen, wenn er in diesem Boot an meiner Seite ist, wenn ich hier rausmanovriere.
Und jetzt sag mir, warum du das fur eine dumme Idee, fur eine Zeitverschwendung, fur vergebliche Muhe und dergleichen Unsinn haltst.“
Auch unter diesen Umstanden konnte ich mir den Sarkasmus in ihren Worten gut dazudenken. Ich konnte ihn nicht horen, aber er mu?te vorhanden sein. Auch sie vertraute mir also nicht vollig. Wenigstens bereitete es mir einige Befriedigung, als ich sie mit meiner Antwort tuchtig in Erstaunen setzte.
„Eine gute Idee“, schrieb ich. „Ich werde Bert suchen und ihm diesen Vorschlag unterbreiten. Ich nehme an, du wurdest mich nicht als Ersatzmann akzeptieren, falls er lieber langer hier bleiben mochte.“
Ihre Miene veranderte sich ein wenig, doch war ich nicht ganz sicher, was der neue Ausdruck bedeutete.
„Leider nein“, sagte sie. „Das wurde zwar deine Ansicht lieber die Ruckkehrmoglichkeit bestatigen, aber du wurdest keine gute Geisel abgeben, glaube ich.“ Das war immerhin ein Trost. „Nein, wir machen es so, wie ich will. Geh und such Bert und hor dir an, was er zu sagen hat.“
Gehorsam schwamm ich fort. Diesmal wartete Bert in der Eingangskammer und war dabei, seine Kenntnisse der Fingersprache zu erweitern — mit Hilfe unserer fruheren Begleiter, des Madchens und ihrer Freunde, mit zweien von ihnen jedenfalls. Ich hatte nicht sagen konnen, welcher fehlte.
Ich hatte alles auf einen Satz vereinfacht, den ich nun aufschrieb und ihm zeigte, als ich nahe genug herangekommen war.
„Marie sagt, sie wurde gehen, wenn du dich wieder umandern la?t und mit ihr gehst.“
Diese Mitteilung starrte er eine volle halbe Minute reglos an. Dann schnappte er sich das Tafelchen und schwamm damit, ohne den Satz zu loschen, den Tunnel entlang auf das Boot zu. Wir folgten ihm. Er glitt an das Fenster, in dem ihr Gesicht noch immer sichtbar war, und hielt das Tafelchen mit meinem Satz hoch. Er deutete auf mich und dann wieder auf das Geschriebene und machte ein Gesicht, das jedermann, ungeachtet seines kulturellen Hintergrundes, hatte deuten konnen. Sie antwortete ganz laut.
„Genau, Bert.“ Er loschte den Satz und sah sie fragend an.
„Warum?“ kritzelte er.
„Das mochte ich spater erklaren. Kommst du mit?“