weitere Untersuchungen, die diesen ublen Scherz zweifelsohne entlarven wurden, die Offentlichkeit davon erfuhr. All das war fur Axt keineswegs neu, und er spurte, wie er wahrend Schmalers langer Rede in tiefe Resignation zu versinken drohte.
Nach der Probenentnahme fur die Altersbestimmung, die Schmaler selbst vornahm, brachten sie den Schieferblock wieder hinunter in den Keller. Als sie sich vor der Station trennten, blieb bei Axt das fatale Gefuhl zuruck, keinen Schritt weitergekommen zu sein. Immerhin gab es jetzt einen Hoffnungsschimmer. Aber selbst, wenn sich herausstellen sollte, da? es sich um das Skelett eines heutigen Menschen handelte -Schmaler schien daran keine Sekunde zu zweifeln, das Opfer eines Verbrechens, oder wei? der Himmel was -, dann blieb immer noch die Frage, wie man es in die Grube geschafft hatte, mitten in den intakten Schiefer, ohne dabei irgendwelche erkennbaren Spuren zu hinterlassen. Es sah alles so aus, als ob der Steinsarg, in dem das Skelett eingeschlossen war, seit vielen Millionen Jahren nicht mehr geoffnet worden war. Das war ein Problem, das Schmaler einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte.
An den folgenden Tagen fragte sich Micha immer wieder, warum er Tobias nicht direkt angesprochen und gefragt hatte, was der ganze Quatsch solle, ob er denn allen Ernstes glaube, auf diese Art ihre alte Freundschaft Wiederaufleben lassen zu konnen. Aber das Ganze war ausgesprochen verwirrend. In seinem Kopf schien sich alles im Kreise zu drehen.
Er ging noch einmal in die Bibliothek, aber auch dieser zweite Versuch brachte kein anderes Ergebnis. Nach allem, was er in Erfahrung gebracht hatte, konnte dieser Kafer unmoglich aus Mittel- oder Osteuropa stammen. Zu dem naheliegenden Schritt, einen Fachmann wie etwa Prof. Rothmann zu fragen, konnte er sich nicht durchringen und dies nicht etwa, weil Tobias in seinem Brief damals eine entsprechende Andeutung gemacht hatte. Er wollte vermeiden, Rothmann gegenuber als Ignorant dazustehen, wenn sich sein Verdacht doch als Hirngespinst erweisen sollte. Bei dem Mann wollte er seine Diplomarbeit schreiben, und er wollte sich nicht schon vorher disqualifizieren.
Er war also keinen Schritt weitergekommen und verspurte nicht das geringste Bedurfnis, Tobias wiederzusehen. Der Typ konnte ihm ein fur allemal gestohlen bleiben. So dumm war ihm noch keiner gekommen.
Wochen spater fiel ihm das Herbarblatt mit der getrockneten Pflanze wieder ein, und er kramte es einer plotzlichen Eingebung folgend aus den Tiefen seines Schreibtisches hervor. Kater und Pflanze hatten vielleicht etwas miteinander zu tun, und moglicherweise brachte ihn ja eine nahere Untersuchung der Pflanze weiter. Also verschob er wider besseres Wissen die Ausarbeitung eines Referates und versuchte sich, das Herbarblatt vor Augen, durch den Pflanzenbestimmungsschlussel zu kampfen.
Es handelte sich um eine Blutenpflanze, soviel stand fest. Neben einem relativ gro?en Blatt, das fast ein Drittel des gesamten Herbarbogens bedeckte, hing an einem kraftigen Stiel eine gro?e Blute mit zahlreichen Blutenblattern. Ihm fiel ein, da? Tobias in der Kneipe von einer Wasserpflanze gesprochen hatte, was ihm die Arbeit erheblich erleichterte, denn er konnte gleich in die entsprechende Tabelle springen. Er fand ziemlich schnell heraus, da? es eine Seerose war, und zu seiner gro?en Erleichterung gab es davon in Deutschland nur vier verschiedene Arten. Das konnte ja nicht so schwer sein. Aber schon bei der ersten Frage blieb er stecken.
fragte das Buch.
Nichts dergleichen! Selbst nach wiederholtem Zahlen blieb das Ergebnis dasselbe: sechs grune Kelchblatter und ein ganzer Haufen braunlicher, fruher vielleicht gelber Blutenblatter, jetzt begann das gleiche Spiel also wieder von vorne: Gab es in der Slowakei mehr als diese vier Arten?
Ihm fiel Claudia ein, die er wahrend eines Praktikums kennengelernt hatte. Sie schrieb gerade bei den Botanikern ihre Diplomarbeit. Vielleicht konnte sie ihm helfen. Im Grunde zweifelte er keine Sekunde mehr daran, da? auch die Seerose nicht aus der Slowakei stammte, aber nachdem er schon soviel Zeit daran verschwendet hatte, wollte er es genau wissen.
Gleich am nachsten Tag stiefelte er nach einem Seminar im Zoologischen Institut durch dichten Nieselregen die paar Meter zur Botanik hinuber. Er fragte sich durch und fand Claudia schlie?lich in einem Laborraum uber ein dickes Buch gebeugt. Sie wandte ihm den Rucken zu, aber er erkannte sie sofort an ihren breiten Schultern.
»Hallo Claudia!«
»Micha! Was machst du denn hier?« Sie blickte uberrascht auf und schien nicht besonders unglucklich uber seinen Besuch zu sein.
»Stor ich?«
»Ach was! Ich habe einiges zu lesen, aber es ist todlangweilig.«
Sie grinste ihn an und schlug mit einem Schwung das Buch zu, als hatte sie nur auf diese Gelegenheit gewartet, um ihre Lekture endlich abbrechen zu konnen. Mit einem Stohnen streckte sie sich einen Moment, und er bewunderte wie damals, wahrend des Praktikums, ihre kraftigen Arme. Claudia war Kugelsto?erin. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sie es sogar bis zur Berliner Meisterschaft gebracht. Wie eine Frau versessen darauf sein konnte, schwere pampelmusengro?e Stahlkugeln ein paar lacherliche Meter weit durch die Luft zu wuchten, war ihm zwar ein Ratsel, aber sie hatte so getan, als sei dies fur sie eine der ganz gro?en Herausforderungen, die einem im Leben so begegneten.
»Kommst du mit deiner Arbeit voran?« fragte er sie und sah sich in dem ordentlich aufgeraumten Labor nach einer Sitzgelegenheit um.
»Dahinten mu?te noch ein Stuhl stehen.« Sie zeigte in die andere Ecke des Raumes. »Ja, da! Ach, es geht eigentlich ganz gut. Meine praktische Arbeit habe ich abgeschlossen. Jetzt schreibe ich zusammen und mu? diesen ganzen Stu? hier lesen.« Sie deutete auf Bucher und Fotokopien, die sich auf dem Schreibtisch stapelten.
»Und was macht der Sport?«
»Na, im Augenblick mu? ich naturlich etwas kurzer treten, wegen der Diplomarbeit.« Sie klopfte sich auf die Oberschenkel, die ihn damals schon so fasziniert hatten. »Ich komme schon langsam au?er Form vom vielen Sitzen, ich merke das.« Mit einer wegwerfenden Handbewegung fugte sie noch hinzu: »Aber gegen diese hochgezuchteten Mannweiber aus Wessiland habe ich sowieso keine Chance. Was soll’s also?« Sie grinste. Es schien ihr nicht viel auszumachen.
Sie kamen auf ihre Sommerferien zu sprechen - kurz davor hatten sie sich das letzte Mal gesehen - und stellten fest, da? sie beide dieselben Inseln in Griechenland besucht hatten, ohne sich zu begegnen. Dieses Thema gab Micha die Gelegenheit, das Herbarblatt ins Spiel zu bringen.
»Du, Claudia, ich wollte dich eigentlich um einen Gefallen bitten. Ein Freund von mir war dieses Jahr in der Slowakei und hat ein paar Pflanzen mitgebracht, die er nicht kannte.«
Er stockte. Wahrend er das sagte, fiel ihm zum ersten Mal die merkwurdige Tatsache auf, da? Tobias offensichtlich Pflanzen und Insekten sammelte. Warum sollte er ansonsten solche Reiseandenken mitbringen. Die Kunstharzeinbettung des Kafers und die Praparation der Pflanze verrieten zudem einige Erfahrung bei diesen Fertigkeiten. Nicht, da? das so ungewohnlich gewesen ware, er sammelte ja selbst, aber jetzt fand er es plotzlich seltsam, da? Tobias ihm nichts davon erzahlt hatte. Immerhin war er doch sehr begeistert davon gewesen, da? Micha sich fur Kafer interessierte. Warum also hatte er nicht erwahnt, da? er selbst Sammler war?
»Und da ich mit der Bestimmung nicht weitergekommen bin«, fuhr er fort, »wollte ich dich eigentlich fragen, ob du vielleicht .«
»Gott, bist du umstandlich! So kenn ich dich ja gar nicht.« Sie warf ihm einen neckischen Blick zu.
»Na ja .«
»Dann zeig doch mal her!«
Er holte die getrocknete Pflanze aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch.
»Eine Seerose«, sagte sie, wie aus der Pistole geschossen.
»Ja, soweit bin ich auch gekommen. Aber dann .«
Sie zog ein Bestimmungsbuch aus dem Regal und blatterte eine Weile darin herum, bis sie den richtigen Abschnitt gefunden hatte. Ihr Blick wechselte ein paarmal schnell zwischen der Pflanze und dem Buch hin und her.
»Tja«, sagte sie schlie?lich. »Die scheint hier nicht drin zu sein. Moglicherweise gibt es da noch mehr als unsere vier Arten, obwohl ich mir das kaum vorstellen kann.«