»Gott bewahre uns. Die haben hier wirklich genug Unruhe gestiftet.«
Plotzlich horte man die entsetzte Stimme von Max aus dem Hintergrund. »Wie? Hab ich richtig gehort, diese Bohrheinis kommen noch mal zuruck?«
»Keine Angst, Max«, rief Axt ihm zu. »Frau Schafer beliebte zu scherzen.«
Max atmete erleichtert auf und brummte irgend etwas Unverstandliches zu Rudi, der daraufhin bedachtig nickte. Kurz darauf verlie?en sie zusammen das Haus und liefen zum Gerateschuppen hinuber. Die diesjahrige Ausgrabungskampagne war vor kurzem abgeschlossen worden. Im Winter wurden keine Grabungen durchgefuhrt, so da? die beiden hauptsachlich mit Wartungs- und Aufraumarbeiten beschaftigt waren. Die eingelagerten Schieferblocke mit den Fossilien mu?ten regelma?ig kontrolliert, befeuchtet und wieder sorgsam verpackt werden, um den Pilz- und Bakterienbefall zu bekampfen. Diese Mikroorganismen vermehrten sich in der abgeschlossenen Feuchtigkeit der verpackten Fundstucke mitunter besorgniserregend und mu?ten mit entsprechenden Mitteln beseitigt werden.
Den Wissenschaftlern in der Station gab die ausgrabungsfreie Zeit endlich Gelegenheit, in Ruhe ihrer eigentlichen Aufgabe nachzugehen. Im Sommer kamen sie vor lauter Fossilienfunden ja kaum dazu, diese genauer zu untersuchen, geschweige denn, sich der aktuellen Literatur zu widmen oder eigene Veroffentlichungen auszuarbeiten. Au?erdem mu?te im Magazin fur die Fundstucke des kommenden Jahres Platz geschaffen werden.
Axt schlo? die Tur seines Arbeitszimmers und setzte sich an den Schreibtisch. Die Stimmung unter seinen Mitarbeitern war gut, daran hatten, Gott sei Dank, seine gelegentlichen Ausfalle nichts geandert. Kunststuck, die Glucklichen hatten ja auch keine Ahnung, was da neben den anderen schwarzen Schieferplatten im Keller lagerte.
Er seufzte, griff nach dem Telefonhorer und rief Niedner an.
»Ah, Dr. Axt, schon, da? Sie anrufen«, sagte der Geologe.
»Sie wollten mich sprechen?«
»Ja, wissen Sie, wir haben da bei der ersten Durchsicht der Messeler Bohrkerne eine ungewohnliche Entdeckung gemacht, die eher in Ihren Zustandigkeitsbereich fallt.«
Axt lief ein Schauer uber den Rucken. Was hatte das denn zu bedeuten? Er hatte plotzlich Angst, da? noch ein mysterioser Fund auftauchen konnte, irgendein anachronistisches Artefakt, das seine schone Grube endgultig in eine wertlose Ansammlung von Knochenmull verwandeln wurde. Ihre Nachbarn unten in der Grube warteten doch nur auf so etwas, damit sie ihre Mulltransporter endlich in Bewegung setzten konnten. Na ja, wenn da noch so ein Unsinn zu Tage kam, wurde er der erste sein, der seine Kuchenabfalle hochstpersonlich in den Schiefer kippte. Vielleicht waren die Geologen auf einen dieser kleinen Plastikdinosaurier gesto?en, die zu Hause im Zimmer seines Sohnes die Regalbretter fullten, unverwustlicher Kunststoff, fur die Ewigkeit gemacht und von einem todunglucklichen kleinen
Er nahm sich zusammen und fragte so unbeteiligt wie nur moglich: »So, was ist es denn?«
»Ein Knochen«, sagte Niedner geheimnisvoll. Er schien zu glauben, da? schon dieses Wort alleine genugte, um einen Palaontologen in Verzuckung zu versetzen. Aber Axt war nicht entzuckt, ganz im Gegenteil. Ihm brach auf der Stelle der Angstschwei? aus.
»Ein .
»Wie bitte? Haha, ein guter Witz,
Goliath hochstpersonlich gesto?en.«
Axt litt Hollenqualen bei Niedners Gelachter. Er mu?te wohl von allen guten Geistern verlassen gewesen sein. Aber Nied-ners Reaktion war symptomatisch. Menschenknochen in Messel waren einfach lacherlich. Mehr fiel einem vernunftigen Menschen dazu nicht ein.
»Und wie kommt der in Ihren Bohrkern?«
»Na, ich vermute, da? wir zufallig ein gro?es Fossil angestochen haben.«
»Sie meinen, da liegt noch mehr?«
»Ja, der Wirbel sieht vollig intakt aus, und warum sollte da unten ein einzelner Wirbelknochen herumliegen?«
Stimmt, dachte Axt, das ware nicht auszuschlie?en, aber fur Messel in der Tat eher ungewohnlich.
»Dann schicken Sie uns den Knochen doch ruber. Wir werden ihn uns mal genauer ansehen. Aber achten Sie darauf, da? er nicht austrocknet.«
»Gut, wir werden aufpassen«, versicherte ihm Niedner. »Rufen Sie mich doch bitte an, wenn Sie wissen, worum es sich handelt. Wir waren hier alle ganz aufgeregt, als wir ihn bei unseren Untersuchungen im Labor gefunden haben.«
»Naturlich, ich melde mich bei Ihnen. Fossilien sind eben doch etwas anderes als ihre toten Gesteine, was?«
»Das will ich nicht sagen«, antwortete der Geologe und lachte. »Haha, mit dem Menschenknochen haben Sie mir einen richtigen Schrecken eingejagt.«
Und mir erst, dachte Axt.
Der alte Vorlesungssaal mit seinen steil ansteigenden Sitzreihen fullte sich langsam. Michael betrat ihn durch den Privile-gierteneingang, den man uber den ersten Stock des Instituts und den Raum erreichte, in dem das Kartenmaterial fur die Vorlesungen lagerte. Die Tur lag gleich links neben der gro?en mehrteiligen Tafel, so da? Micha beim Betreten des Saales direkt auf die holzernen, schon gut besetzten Sitzreihen blickte. Es war tatsachlich ein erhebendes Gefuhl, den Saal zum ersten Mal nicht durch den Dienstboteneingang zu betreten, den die Studenten benutzten, wenn sie die Vorlesungen besuchen wollten. Der Privilegierteneingang war den Professoren fur ihre Lehrveranstaltungen vorbehalten und bei Anlassen wie diesem, einem der traditionellen Colloquiumsvortrage, allen Angehorigen des Instituts. Es gab naturlich keine Eingangskontrolle, niemanden, der einen zuruckgeschickt hatte, wenn man nicht zu dieser elitaren Gesellschaft gehorte, aber es war ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich alle hielten. Micha hatte sich der Arbeitsgruppe von Prof. Rothmann angeschlossen, wollte im Sommer mit den Untersuchungen fur seine Diplomarbeit beginnen und hatte schon einmal angefangen, sich in sein zukunftiges Arbeitsgebiet einzulesen, an seinem nur fur ihn reservierten Arbeitsplatz wohlgemerkt. Plotzlich gehorte er dazu, und in der Tatsache, da? er zusammen mit Karin und Detlef, zwei Doktoranden Rothmanns, den Eingang unten neben der Tafel benutzte, manifestierte sich dieser neue Status fur ihn zum ersten Mal. Wenn auch nur als ganz kleiner Fisch, war er nun Teil der gro?en internationalen Gemeinschaft der Wissenschaft. Zu seiner eigenen Uberraschung erregte ihn diese Vorstellung wesentlich mehr als erwartet.
Das Mittwochscolloquium hatte eine langjahrige Tradition, die mit gro?er Sorgfalt gepflegt wurde. Meistens referierten dort von den unterschiedlichen Arbeitsgruppen eingeladene Gastdozenten uber so spezielle Themen, da? man kaum die Titel verstand, geschweige denn den Vortrag selbst. An solchen Tagen verloren sich kaum Studenten hierher, und die Institutsangehorigen blieben weitgehend unter sich. Von letzteren wurde allerdings erwartet, da? sie sich dort blicken lie?en, ganz egal, worum es ging.
Die Vortragsreihe dieses Wintersemesters fiel allerdings aus dem Rahmen und war daher ungewohnlich gut besucht. Selbst dieses den hoheren Weihen der Wissenschaft verschriebene Institut hatte sich dem allgemeinen Dinofieber nicht ganz entziehen konnen und die Colloquiumsreihe unter das spezielle Thema gestellt: Palaontologie und Evolution - eines der Schlusselgebiete aller biologischen Wissenschaften. Und der Andrang war wirklich enorm. Selten hatte man den alten Vorlesungssaal derart gefullt gesehen. Schon am letzten Mittwoch bei dem ziemlich speziellen Vortrag uber Chronospezies - Fossilien und Artbegriff - war der Saal aus allen Nahten geplatzt, und auch heute, zumal ein relativ unspektakulares Thema auf dem Programm stand, deutete sich ein uberdurchschnittlich guter Besuch an.
Die drei suchten sich einen Platz in einer der oberen Sitzreihen, damit sie alles gut im Auge behalten konnten. Die unteren Reihen waren den Professoren und ihren Assistenten vorbehalten. Wie immer wurden die erst in letzter Minute zum Colloquium erscheinen.
Im Raum herrschte gespannte Erwartung. Unten vor der Tafel stand eine kleine Gruppe zusammen, die sich