angeregt unterhielt. Die meisten waren Wissenschaftler des Instituts, aber ein nervos wirkender, kraftig gebauter Mann mit Burstenhaarschnitt war Micha unbekannt und schien der Referent des heutigen Nachmittags zu sein, Dr. Helmut Axt von der Sen-ckenberg-Forschungsstation Messel. Irgendwie pa?te der Name zu ihm. Sein Kinn ragte aus dem rundlichen Gesicht, als konne er damit die Fossilien ohne weitere Hilfsmittel aus dem Gestein hacken.
Immer mehr Leute stromten in den Saal, von oben durch den Dienstbotenaufgang eine erstaunlich gro?e Zahl interessierter Studenten und von unten durch den Privilegierteneingang die Mitarbeiter des Hauses. Letztere erschienen meist in kleinen Gruppen. Sie hatten noch in ihren jeweiligen Labors zusammengesessen und Kaffee getrunken und waren dann arbeitsgruppenweise aufgebrochen, je spater, desto bedeutender. Das ganze Schauspiel folgte einem verborgenen Regelwerk, das zu verstehen nur Alteingesessenen vorbehalten war, ein seltsames Ritual, dessen Faszination sich Micha kaum entziehen konnte.
Oft war dieses Vorspiel allerdings bei weitem das Interessanteste an einem solchen Nachmittag, denn nicht selten entpuppten sich die Vortragenden als hochgebildete und hochspezialisierte Langweiler der allerschlimmsten Sorte, die jedes Feuer, jede Leidenschaft vermissen lie?en und ihren Stoff gespickt mit Fachtermini so herunterleierten, da? man schon nach wenigen Satzen mit dem Schlaf kampfte. Noch unangenehmer waren allerdings die Referenten, die den Zuhorern ihren Stoff in einem derart atemberaubenden Tempo um die Ohren schlugen, da? einem Horen und Sehen verging und danach sehr grundsatzliche Zweifel aufkamen, ob man wirklich das richtige Studienfach gewahlt hatte.
Schubert, der Evolutionsbiologe des Instituts und Organisator dieser Colloquiumsreihe, begann auf die Uhr zu schauen. Sein Assistent, ein arroganter Typ mit Seitenscheitel, dem Micha schon einige Male auf den Institutsgangen begegnet war, geno? das ungeheure Vorrecht, oben den Diaprojektor bedienen zu durfen, und damit ihn auch niemand ubersah, warf er uber den Kopfen der Gruppe um den Referenten zu Testzwecken schon einmal das eine oder andere Bild an die Wand.
Fast alle Platze waren jetzt besetzt. Einige Studenten, die drau?en vor der Tur noch schnell eine Zigarette geraucht hatten, drangten von oben herein. Ein dumpfes Gemurmel und einzelne Lacher fullten den Saal. Kurz vor Ablauf des akademischen Viertels schlupften nun die oberen Dienstgrade der Institutshierarchie durch den Privilegierteneingang und nahmen ihre Platze ein, sofern sie sich nicht erst zu der Gruppe um den Referenten gesellten, um bis in die letzten Sitzreihen hinauf deutlich zu machen, da? sie auch wirklich anwesend waren oder den Vortragenden sogar personlich kannten. Auch Roth-mann gehorte zu den Spatankommlingen. Bevor er sich setzte, flog sein Blick schnell uber die Sitzreihen, wohl um festzustellen, ob seine Schutzlinge sich eingefunden hatten. Als er Micha und die beiden anderen oben sitzen sah, nickte er zufrieden, schob sich in die Sitzreihe und wandte sich beruhigt der Tafel zu.
Stritzel flitzte herein und nickte allen Bekannten zu. Er beschaftigte sich mit sozialen Insekten, verfugte in Form eines kleinen Vorbaus am Institut sogar uber einen Freiflugraum fur seine Studienobjekte, und es waren Geruchte im Umlauf, da? er von den Hornissen, die darin ihr Unwesen trieben, schon mindestens hundertmal gestochen worden war. Gechter, der durre Pantopoden-Spezialist, betrat nach ihm den Saal. Wie immer ganz unauffallig und bescheiden verzog er sich sofort in die zweite Reihe.
Wahrend Schubert immer haufiger auf die Uhr schaute und der Vortragende sich schon aus der um ihn versammelten Gruppe zuruckgezogen hatte, um noch einmal einen letzten Blick auf seine Aufzeichnungen zu werfen, naherte sich der Hohepunkt der Ouverture.
Wer wurde es diesmal schaffen, als letzter zu erscheinen? Dieser Wettlauf mit umgekehrten Vorzeichen war ein gefahrliches Vabanquespiel. Schaffte man es tatsachlich als allerletzter in den Saal zu hetzen, war damit dokumentiert, da? man seine kostbare Arbeitszeit bis zum letzten Moment mit zweifellos hochst bedeutsamer Forschungstatigkeit auszufullen gewillt war, gleichzeitig den Vortrag des hochgeschatzten Referenten aber um keinen Preis verpassen wollte. Ein beispielgebender Spagat ware gelungen, eine Verbeugung vor der heiligen Wissenschaft wie eine Respektbezeugung vor dem Vortragenden.
Schaffte man es aber nicht, platzte man mitten in die Vorstellungsworte des Gastgebers oder gar in die Einfuhrung des Referenten, dann manovrierte man sich vor versammelter Mannschaft nicht nur in eine hochnotpeinliche Situation - die besondere Lage des Privilegierteneinganges fuhrte ja dazu, da? man wie auf einer Buhne vor alle Anwesenden trat -, sondern wurde spatestens beim nachsten selbst organisierten Colloquium oder der anstehenden Direktoriumssitzung, in der es um die Verteilung der Institutsmittel ging, merken, was man sich eingebrockt hatte.
Gerade als Schubert die Tur neben der Tafel schlie?en wollte, schlupfte Persigel mit seinem Anhang durch. Aber der Stoffwechselphysiologe hatte Pech. Keine zehn Sekunden spater, Schubert hatte die Klinke schon wieder in der Hand, folgten die Sieger des Wettlaufs. In einem wahren Triumphmarsch zogen die Neuros ein. Wilhelm Zeugner, Professor der Neurophysiologie, sein Assprof., seine beiden Assistenten und nicht weniger als acht Diplomanden drangten im Gansemarsch durch die Sitzreihen auf die letzten freien Platze. Schubert konnte endlich die Tur schlie?en.
Wie zu befurchten, drohte der Rest des Nachmittags eine Enttauschung zu werden. Schubert stellte den verkrampft lachelnden Referenten vor, ratterte lieblos seinen wissenschaftlichen Werdegang herunter, als handele es sich um die Bekanntgabe der Sicherheitsvorkehrungen im Brandfall, und Dr. Axt hob anschlie?end mit teilnahmsloser Stimme zu einem gahnend langweiligen Abri? der Fossilienbergungsgeschichte in der Grube Messel an. Ernuchterung machte sich breit.
Plotzlich geschah etwas Au?ergewohnliches. Die Tur links neben der gro?en Tafel offnete sich erneut, zunachst nur einen Spalt, dann zur Ganze, und von mindestens vierhundert Augen bestaunt betrat ein seltsames Paar den Raum, offensichtlich ohne sich der Ungeheuerlichkeit ihres Vergehens bewu?t zu sein. Das Undenkbare war geschehen. Axt stockte in seinem Vortrag und blickte sich irritiert um, die Professoren hielten vor Entsetzen den Atem an und schleuderten giftige Blicke auf die Neuankommlinge, und der Rest des Auditoriums steckte die Kopfe zusammen. Ein eigentumliches Summen stieg von den dichtgefullten Sitzreihen auf.
Es war nicht ganz auszumachen, wem der beiden Storenfriede die gro?ere Aufmerksamkeit galt, dem gebeugt und auf einen Stock gestutzt gehenden Mannchen, dessen seltsamer Spitzbart ihm das Aussehen eines uberdimensionierten Gartenzwerges verlieh, oder seiner jungen Begleiterin, die ihn um mindestens einen Kopf uberragte.
»Wer is’n das?« flusterte Micha der neben ihm sitzenden Karin ins Ohr.
»Wen meinst du?« zischte sie zuruck. »Die Frau?«
Wenn er ehrlich war, interessierte ihn tatsachlich nur die Frau. An seiner himmelschreienden Notlage hatte sich noch immer nichts geandert, und es grenzte schon an Untertreibung, wenn er diese Frau, die da plotzlich auf der Bildflache erschienen war, nur als eines der hinrei?endsten Geschopfe beschrieb, die ihm jemals unter die Augen gekommen waren. Den zwei Dritteln der Zuhorerschaft, die dem mannlichen Geschlecht angehorten, schien es nicht viel anders zu gehen. Die Kopfe folgten jeder Bewegung ihres Korpers wie an einem Gummizug, bis sie an der Seite ihres Begleiters endlich einen freien Platz gefunden hatte. Wenn es nach Micha gegangen ware, dann hatte er diesen Fossilienfritzen da unten, der inzwischen nach seinem kurzen Stolperer unverdrossen weitergeredet hatte, auf der Stelle in Ehren entlassen und den Rest der Zeit damit verbracht, diese Frau anzuhimmeln.
»Na, beide«, sagte er zu Karin, die ihm einen spottischen Blick zuwarf.
»Ich glaube, das ist Sonnenberg, der Palaontologe«, flusterte sie, »aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe ihn noch nie gesehen.«
Er schluckte. »Und sie?«
»Was wei? ich.« Sie grinste und legte den Kopf schief. »Vielleicht seine Geliebte?«
Nachdem Sonnenberg mit lautem Poltern endlich seinen Stock untergebracht hatte, konzentrierte sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf den Vortragenden.
»Nachdem 1971 der industrielle Abbau des Olschiefers eingestellt wurde, entwickelte sich die Grube zum Eldorado der Hobbypalaontologen. An manchen Wochenenden tummelten sich bis zu dreihundert von ihnen in der Grube. Aus dieser Zeit stammen einige der bemerkenswertesten Fundstucke wie der 1974 ausgegrabene Ameisenbar, bis heute der einzige seiner Art. Obwohl die private Sammeltatigkeit offiziell verboten war, duldeten die Behorden das bunte Treiben, bis die Grube Ende 1974 fur die Offentlichkeit gesperrt wurde, weil das Gelande zur zentralen Mulldeponie Sudhessens ausgebaut werden sollte.
Der Zweckverband Abfallverwertung Sudhessen, kurz ZAS, kaufte 1975 das gesamte Grundstuck der Grube Messel, und trotz weltweiter Proteste entschied das Verwaltungsgericht Darmstadt 1981 zugunsten der geplanten