Mulldeponie ...«
Es fiel Micha zunehmend schwerer, den eintonig vorgetragenen Ausfuhrungen des Palaontologen zu folgen, denn sie wandte ihm genau ihr Profil zu. Immer wieder kehrten seine Augen von dem nur geringe optische Reize bietenden Referenten zu ihrer su?en Stupsnase zuruck, ihrer fast schwarzen Mahne. Ihr Korper hatte auf den wenigen Metern von der Privilegiertentur bis zu ihrem Sitzplatz so durchtrainiert gewirkt, so kraftvoll und von katzenhafter Geschmeidigkeit, als konnte sie, wenn sie nur wollte, die Schwimmweltrekorde einfach so aus dem Handgelenk schutteln. Wahrend der kleine Professor, der von Micha aus gesehen zwischen ihnen sa?, fast vollig in seinem Sitz versunken war, sa? sie kerzengerade da und starrte mit unbeweglichem Gesicht, aber rosig glanzenden Wangen nach vorne.
»... Das Gestein besteht aus einem faulschlammahnlichen Pflanzenzersetzungsprodukt, das mit dem Mineral Montmoril-lonit zu einem falschlicherweise als Olschiefer bezeichneten Material verfestigt wurde. In der feinkornigen Grundmasse sind Algen, Pilze und Pollen nachweisbar .«
In diesem makellosen Gesicht ruhrte sich nichts. Sie wurdigte ihre Umgebung keines Blickes.
»... der See wies wie viele heutige Seen auch eine ausgepragte Schichtung auf. Einer etwa funf Meter tiefen vitalen, eutrophen Zone mit sehr hoher Biomassenproduktion folgte eine sauerstoffarme bis -freie Zone. Am Boden verfestigte sich das herabsinkende Sediment und das organische Material unter anaeroben Bedingungen zu Olschiefer. Schlie?lich verlandete der Messeler See wie eine obenliegende Deckschicht aus Braunkohle beweist .«
Der kleine, fast unsichtbare Professor flusterte ihr etwas zu, Micha und eine gro?ere Zahl weiterer Zuhorer konnten es deutlich erkennen. Als sie ihren Kopf etwas zur Seite drehte, war ihm, als trafen sich fur einen Sekundenbruchteil ihre Blicke. Plotzlich gab es nur diese dunklen Augen, ringsherum absolute Stille, und ihm scho? ein Hormonsto? durch die Gefa?e, der es ihm fast unmoglich machte, still sitzen zu bleiben. Sie nickte. Dann drehte sich ihr Gesicht wieder nach vorne.
»... Die Fossilien des Sees stammen aus vier unterschiedlichen Lebensraumen:
1. dem Wasserkorper mit seinen Fischen und Planktonorganismen,
2. den Uferregionen des Sees, reprasentiert durch Schildkroten, Krokodile und verschiedene Amphibien,
3. der naheren und weiteren Umgebung, wobei die zu dieser Gruppe gehorenden Echsen und Saugetiere wie die Urpferd-chen vermutlich uber Zuflusse und Uberschwemmungen in den See gespult wurden, sowie
4. dem Luftraum. Vogel, Fledermause und unter Umstanden auch Insekten konnten beim Uberfliegen des Sees durch aufsteigende giftige Faulgase betaubt, abgesturzt und ertrunken sein .«
Wer war sie? Warum war er ihr noch nie begegnet? Seine Tochter? Eine Studentin, eine Diplomandin? Er hatte noch nie von einem Palaontologen an ihrem Fachbereich gehort. Der Mann schien sich ziemlich rar zu machen. Vielleicht sollte er das Fach wechseln. Vielleicht war Insektenokologie doch nicht so aufregend, wie er gedacht hatte.
Plotzlich wurde es schummrig im Saal, denn Schuberts Assistent am Diaprojektor hatte das Signal erhalten, da? seine gro?e Stunde gekommen war.
Da Sonnenbergs Nachbarin nun nicht mehr zu erkennen war, blieb Micha nichts weiter ubrig, als sich den Dias zuzuwenden. Nach Ubersichtsaufnahmen vom wenig eindrucksvollen Grubengelande folgte eine ermudende Serie von braunlichschwarzen Skeletten, deren verwirrende Knochenvielfalt Micha allenfalls signalisierte, da? es sich um verschiedene Arten von Wirbeltieren handelte. Die Luft im vollbesetzten Vorlesungssaal wurde langsam stickig. Die nicht enden wollende Folge von Schildkroten- und Krokodilarten, von Insektenfressern, Nagetieren, Schuppentieren und Urpferdchen fand ein abruptes Ende, als aus der Richtung des Diaprojektors plotzlich ein maschinengewehrartiges, nach der vorangegangenen Stille geradezu ohrenbetaubendes Rattern erklang, welches das Auditorium aus seinem kollektiven Dammerzustand ri?.
Der Projektor war irgendwie hangengeblieben. Jemand machte Licht und die in sich zusammengesunkenen Zuhorer und Zuhorerinnen begannen sich zu strecken und zu tuscheln. Endlich fand Schuberts Assistent, dem sich nun die Aufmerksamkeit des gesamten Saales zugewendet hatte, den Schalter, der das enervierende Geratter abstellte. Sein Kopf gluhte wie eine Laterne, und mit hektischen Bewegungen versuchte er des Problems Herr zu werden. Auch
Der geplagte Vorfuhrer hatte naturlich im Moment ganz andere Sorgen. Die Bedienung des Diaprojektors konnte sich in Windeseile von einem hochgeschatzten Privileg in ein elendes Martyrium verwandeln. So war es zum Beispiel keine leichte Aufgabe zu erkennen, wann die Referenten ein neues Dia projiziert haben wollten. Da die meisten Redner das monotone »Das nachste Dia, bitte!« vermeiden und sich neben ihren Folien und Manuskriptseiten nicht auch noch die Fernbedienung des Projektors aufhalsen wollten, hatte sich eine Art Zeichensprache eingeburgert, die nur leider in keiner Weise normiert war. Wurde ein langer Zeigestock aus Bambus oder Holz benutzt, war es ublich, mit dem Ende kurz auf den Boden zu tippen. Manche Referenten stampften derart herrisch mit dem Stockende auf den Boden, da? die auf diese Weise maltratierten Zeigestocke ganz abgeplattete Enden bekamen und nur eine geringe Lebensdauer erreichten. Es horte sich an, als wurde ein Lakai bei Hofe das Erscheinen des Konigs ankundigen. So unschon diese Methode auch war, sie verhinderte, da? eine fluchtige Geste, ein Kratzen am Kinn, ein Wechsel des Standbeins im verdunkelten Vortragssaal als Aufforderung zum Diawechsel mi?verstanden wurde. Das Auditorium wurde nicht aus seiner Konzentration, der Vortragende nicht aus seinem Redeflu? gerissen, und dem Vorfuhrer blieb erspart, vor allen Anwesenden als der Dumme dazustehen, denn es gab eine unumsto?liche goldene Regel: Was auch geschieht, der Referent hat immer recht.
Da der Fortschritt nun auch in der Zeigestocktechnologie Einzug gehalten hatte und sich in jungster Zeit mit stark ansteigender Tendenz die modernen Lichtpfeile oder teleskopartig ausziehbaren Westentaschenzeigestocke einburgerten, kam das bewahrte Stockstampfen leider au?er Mode und das Bedienungspersonal an den Projektoren mu?te ein geradezu ubermenschliches Einfuhlungsvermogen aufbringen, um den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden.
Schuberts hochnasiger Lackaffe von Assistent, dem Micha seine prekare Lage von Herzen gonnte, versuchte noch immer verzweifelt, das verklemmte Dia zu losen, als Axt ein Einsehen mit ihm hatte und eine spontane Einlage zum besten gab. Er entpuppte sich als souveraner Meister der Situation und sammelte bei der langsam ungeduldig werdenden Zuhorerschaft Pluspunkte.
Bisher hatte Axt sein Programm relativ unengagiert und mit fast gelangweilter Routine heruntergespult. Weder die ungewohnlich gro?e Kulisse noch der spektakulare Auftritt dieses ungleichen Parchens gleich zu Beginn seiner Ausfuhrungen hatte ihn stimulieren und aus seiner inneren Verkrampfung befreien konnen. Aber dieses hammernde Stakkato des verklemmten Diaprojektors ri? ihn aus seiner Lethargie, ruttelte ihn wach und verhalf ihm zu einer glanzenden Idee.
»Die kleine Verzogerung gibt mir Gelegenheit«, sagte er, »Ihnen von einem Vorfall zu berichten, der sich gerade zugetragen hat und der ihnen zeigen soll, welch ungewohnliche Wege die Fossiliensuche bisweilen nehmen kann.« Er wartete einen kurzen Moment, bis die Gesichter seiner Zuhorer sich von dem bedauernswerten Studenten hinter dem Projektor wieder abgewandt hatten.
»Wir hatten in diesem Sommer eine geologische Forschungsgruppe zu Gast in der Grube. Sie fuhrten auf dem ganzen Gelande systematisch Bohrungen durch, und der Zufall wollte es, da? sich in einem ihrer Bohrkerne ein vollstandiger und unversehrter Halswirbelknochen fand. Unsere Untersuchungen haben nun ergeben, da? es sich dabei um den Halswirbel eines Krokodils handelt, der Gro?e des Knochens nach zu urteilen, sogar eines sehr gro?en Krokodils, wahrscheinlich des gro?ten, auf das wir jemals gesto?en sind.«
Anerkennendes Raunen im Saal.
»Wir sind davon uberzeugt, da? der Bohrer den Halswirbel sauberlich aus seinem Knochenverband herausgestanzt hat und der Rest des Skelettes noch im Schiefer liegt, in etwa zweieinhalb Meter Tiefe.«
Jetzt spurte Axt, da? er seine Zuhorer im Griff hatte. Sie hingen an seinen Lippen, ode wissenschaftliche Routine war plotzlich in aufgeregte Entdeckerfreude umgeschlagen. Der kleine Projektorzwischenfall hatte dank seiner Geistesgegenwart eine gluckliche Wendung eingeleitet. Fur den Rest seines Vortrags war ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit des Auditoriums sicher. Er fuhlte, wie sein Korper neue Kraft mobilisierte, wie er aus den neugierigen Blicken seiner Zuhorer Energie auftankte, und als dann der Projektor wieder lief, holte er die verlorene Zeit muhelos auf - er wu?te, da? es sehr ungern gesehen wurde, wenn man die Vortragszeit uberzog -, glanzte