»Wo wollt ihr hin?« fragte Eva zum wiederholten Male und grinste, wahrend Meier, der schwarz-wei?e WG-Kater, schnurrend an den Buchsenturmen vorbeistrich. »Ihr habt wohl Angst, da? es da nichts zu essen gibt.«

»Ich hab wirklich noch nie gesehen, da? einer kiloweise Reis, Spaghetti, Kaffee, Zucker und so’n Zeug mitschleppt«, bemerkte Rainer. »Wollt ihr in die Antarktis?«

Micha hatte sich schon lange abgewohnt, darauf zu reagieren. Am besten war es, sie einfach zu ignorieren, sonst lief man nur Gefahr, unangenehme Fragen zu provozieren. Als er eines Tages ungefahr zehn Tuben Tomatenmark und ebenso viele Buchsen Pfirsiche, Birnen und Gulasch die vier Treppen hochschleppte, hielten sie ihn endgultig fur ubergeschnappt.

»Kannst du mir mal verraten, wie ihr das alles tragen wollt?« fragte Eva, womit sie den Nagel auf den Kopf traf. Genau das hatte er sich auch gerade gefragt. Aber er sagte nichts, sondern sturmte wieder aus der Wohnungstur, um Vitamintabletten, Antibiotika, Pflaster und ahnliches zu besorgen. Nur gut, da? man in der Urzeit kein Geld braucht, dachte er, denn seines ging schon im Vorfeld ihrer Reise bedenklich zur Neige. Das Ganze entpuppte sich als ziemlich teurer Spa?.

Tobias kummerte sich um Zelt, Schlafsacke, Kocher und alles andere, was zu einer anstandigen Expedition gehorte, wahrend er sich um ihr leibliches Wohl sorgen sollte. Das alles war ziemlich verruckt, und er konnte es Eva und Rainer nicht verubeln, da? sie sich daruber lustig machten.

Sie hatten zwei alte Koffer organisiert, in die sie ihre Vorrate pressen wollten, was ihnen bei einem Probepacken unter gro?ten Muhen auch gelang. Allerdings zerrissen dabei eine Tute Naturreis und ein Paket Zucker, und es gab eine Riesenschweinerei auf Michas Teppichboden. Jeder hatte neben einem prallgefullten Rucksack einen dieser bleischweren Koffer zu tragen, was mit Sicherheit kein Vergnugen sein wurde.

Als ihre Abreise schlie?lich immer naher ruckte, machte sich in ihm eine rastlose Nervositat breit, die durch nichts mehr zu beruhigen war.

»Meine Gute, hast du Hummeln in der Hose?« fragte Eva, als sie wenige Tage, bevor es losgehen sollte, mitansah, wie er hastig seine Fruhstucksbrote in sich hineinstopfte, den Kaffee hinterherkippte und sofort danach, noch kauend, in sein Zimmer sturzte, um eine Liste aller Vorrate anzufertigen.

Was, wenn Tobias nun die Wahrheit erzahlt hatte? Nur mal angenommen, nur so als Gedankenspiel. Alles mu?te dann peinlich genau kontrolliert werden, damit sie ja nichts verga?en. Er versuchte solche Gedanken zwar von sich abzuschutteln, aber das fuhrte genau zu dieser unglaublichen Hektik, die es ihn nirgendwo lange aushalten lie? und die allen, die mit ihm zu tun hatten, zunehmend auf die Nerven ging.

Wenige Tage vor ihrer Abreise rannte er noch einmal kurz entschlossen aus der Wohnung, um in der Innenstadt eine Karte der Slowakei zu kaufen. Er war der festen Uberzeugung, die wurde ihnen letztlich mehr von Nutzen sein als die Tabelle der Erdzeitalter, die Tobias eingepackt hatte. Im Landkartenladen traf er uberraschenderweise auf Claudia.

»Was machst du denn hier?« fragte Micha, als er sie, einen kleinen Rauhhaardackel an der Leine fuhrend, vor den Regalen stehen sah. Sie zuckte zusammen.

»Na, ich stobere nur so rum«, sagte sie, und ihr Blick flatterte unruhig zwischen ihm, dem Dackel und irgendwelchen Punkten im Raum hin und her.

»Ist das deiner?« Er wies auf den Hund.

»Ja, das ist Pencil.«

»Ah, ja, Pencil also.« Ihm fiel auf, da? sie eine Karte in der Hand hielt.

»Was hast’n da?« Sie wollte ihre Hand wegziehen, aber er hatte schon zugegriffen.

»Tschechoslowakei? Willst du jetzt auch dahin?«

»Nein, ach, ich ...« Sie schuttelte energisch den Kopf und ri? ein paarmal unvermittelt an der Hundeleine, als ob sie ihren Dackel bandigen wollte. Pencil hockte aber ganz brav neben ihr und schaute verwundert nach oben. »Die fiel mir gerade in die Hande, und da du erzahlt hast, da? du dahin fahren . Ja, komisch, ich hatte gerade an dich gedacht.«

»Na, wenn du sie nicht willst, kannst du sie ja mir geben. Deswegen bin ich namlich hier.«

»Klar! Bitte!«

Er griff nach der Karte und warf kurz einen prufenden Blick auf den Umschlag.

»Geht’s bald los bei euch?« fragte sie.

»Ja, in vier Tagen fahren wir nach Prag.«

»Na, dann viel Spa?.«

»Ja, danke. Du, ich hab’s eilig. Bis nach den Ferien dann.«

»Tschus!«

»Tschus!« rief er, schon auf dem Weg zur Kasse. Plotzlich machte er auf dem Absatz kehrt und umarmte sie. »Wo fahrst du denn jetzt hin?« fragte er und ku?te sie auf die Wange.

»Ich bleibe hier und schreibe meine Arbeit zusammen.«

»Klingt ja echt aufregend. Und da wolltest du wenigstens hier etwas vom Duft der gro?en weiten Welt schnuppern, was?«

Sie zuckte mit den Achseln und zog die Augenbrauen nach oben. »Nicht jeder hat es eben so gut wie du.«

»Wir sprechen uns nachher wieder«, sagte er voller dunkler Vorahnungen.

Er zahlte, winkte ihr noch einmal zu und verlie? den Laden, um direkt zu Tobias zu fahren. Eigentlich war er ja immer noch der Meinung, sie wurden eine ganz normale Urlaubsreise antreten, sofern eine Fahrt in die Slowakei zu dieser Jahreszeit als normal anzusehen war, aber er war vor einer Reise noch sie so aufgeregt gewesen. Er mu?te noch einmal mit Tobias reden. Womoglich hatten sie etwas Wichtiges vergessen.

Als ob sie noch nicht genug zu tragen hatten, tauchte Tobias kurz vor ihrer Abreise plotzlich mit einem Zehn-Liter-Plastikkanister auf und behauptete, den mu?ten sie unbedingt mitnehmen, der sei fur Trinkwasser gedacht und fur sie so lebenswichtig, da? sie ohne ihn gar nicht erst aufzubrechen brauchten. Micha fand, da? ihre Gepackmassen auch ohne den Kanister schon mehr als zumutbar waren, aber Tobias meinte, ihm sei eingefallen, da? sie hinter der Hohle mitten im Meer landen wurden und da? sie ohne Trinkwasservorrat verloren seien beziehungsweise gleich wieder umdrehen konnten.

Von einer Ankunft im Meer war bisher noch nie die Rede gewesen, und Micha fiel aus allen Wolken. Die Sache brachte ihn so aus dem Konzept, da? er in eine gro?e Krise geriet und die ganze Expedition abblasen wollte. Irgendwie schaffte Tobias es aber, ihn davon zu uberzeugen, da? er damals bei seiner ersten Reise zufallig eine Wasserflasche mit dabei hatte, da er ja nicht gewu?t habe, wie gro? die Hohle war. Fur ihn alleine hatte das Wasser gereicht, und deshalb habe er jetzt gar nicht mehr daruber nachgedacht. Aber fur zwei Personen, und wenn sie unglucklicherweise in schlechtes Wetter gerieten und langsamer vorankommen sollten als er damals, waren zehn Liter Trinkwasser das absolute Minimum.

Da? sie nun plotzlich hinter der Hohle im Meer landen sollten, hier mitten in Europa, machte die Geschichte in Michas Augen nicht gerade glaubwurdiger. Aber er war nun schon so weit gegangen, da? er auch auf dieses Ansinnen einging und den Kanister zu den beiden bleischweren Koffern in sein Zimmer stellte.

Die Anreise war eine elende Schinderei und ubertraf Michas Befurchtungen bei weitem. Bis sie schlie?lich, beladen wie zwei Packesel, nach vier endlosen Tagen das trostlose Kaff erreichten, in dessen Nahe nach Tobias’ Angaben die Hohle liegen sollte, hatte Micha seinen Entschlu? schon bei etlichen Gelegenheiten bitter bereut. Jedes gottverdammte Gramm dieses verfluchten Koffers hatte er zum Teufel gewunscht, jeden Meter, den er das Gepack schleppen mu?te, nur an sein gemutliches Zuhause und seine weiche Matratze gedacht, wahrend Tobias alles mit stoischer Gelassenheit und freudiger Erwartung hinter sich brachte. Michas Arme schienen mit jeder Minute, die er diesen Koffer tragen mu?te, langer zu werden. Der auch nicht gerade leichte Rucksack auf seinem Rucken fiel dagegen kaum noch ins Gewicht.

Ihr Anblick war zweifellos mehr als lacherlich. Die Leute auf den Bahnsteigen und Busstationen starrten sie an, als kamen sie aus einer anderen Welt. Polizisten beaugten sie mi?trauisch. Mehrmals mu?ten sie ihre Papiere herauskramen und einmal sogar die Koffer offnen, wobei den Beamten angesichts ihrer Vorrate fast die Augen ubergingen. Ihre Erklarung, das sei alles fur den Eigenbedarf bestimmt, rief unglaubiges Kopfschutteln und ein endloses Palaver hervor. Aber sie lie?en sie ziehen. Glucklicherweise schien ihnen nicht aufzufallen, da? die ganze Ausrustung eher in die Tropen als in die winterliche Slowakei pa?te.

Nach drei Nachten, die sie auf Bahnhofen und in einem schabigen Hotel zugebracht hatten, erreichten sie schlie?lich, vollig durchgefroren und ubermudet, mit schmerzenden Gelenken und Blasen an den Handen, ihr erstes

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