Etappenziel. Sie mieteten sich in einem einfachen Landgasthaus ein und polterten dort, mit den sperrigen Koffern und dem leeren Kanister uberall gegensto?end und von den in der Gaststube herumsitzenden Einheimischen mit offenen Mundern bestaunt, eine knarrende Holztreppe hinauf zu ihrem Zimmer, wo Micha sich sofort ins Bett fallen lie?.
Am nachsten Morgen, gleich nach einem sparlichen Fruhstuck, wollte Tobias, dem die Strapazen der letzten Tage nichts ausgemacht zu haben schienen, sofort nach seinem Boot sehen, das er in dem Schuppen eines Bauern zuruckgelassen hatte.
»Ohne Boot keine Expedition«, sagte er, und obwohl er damit zweifellos recht hatte, sah Micha sich au?erstande, an diesem Tage auch nur einen Schritt mehr als unbedingt notig zu gehen. Also zog Tobias alleine los. Micha hielt sich solange in ihrem Zimmer auf, lief spater ein paar Schritte durch das armliche Dorf und bewunderte die schone Umgebung. Sie hatten Gluck. Es war fur diese Jahreszeit viel zu mild. Uberall tropfte es. Es lag schon fast ein Hauch von Fruhling in der klaren Bergluft. Ringsum ragten schroffe Felsklotze auf, die das Dorf schon am fruhen Nachmittag beschatteten und auf denen sich an geschutzten Stellen noch einige Schneereste gehalten hatten, und gleich hinter den letzten Hausern, angrenzend an einige Viehweiden und Felder, begann ein urtumlich wirkender Bergwald. Durch das Dorf platscherte ein kleines Flu?chen in seinem steinigen Bett, und er fragte sich, ob dies wohl schon
Am Nachmittag kam Tobias zuruck, berichtete, da? alles in Ordnung sei und da? er das Boot schon zu dem kleinen See gerudert habe. Das Gewasser, in dem eine ziemlich starke Stromung herrschte, sei, Gott sei Dank, nur mit einer dunnen Eisschicht bedeckt gewesen. Sie wurden ohne Probleme vorankommen. Das Boot warte jetzt in der Nahe der Hohle auf sie. Alles sei bereit.
»Wie weit ist denn dieser See von hier entfernt?« fragte Micha und rakelte sich gahnend auf seinem Bett. Der kurze Marsch durch das Dorf hatte ihn sehr angestrengt.
»Etwa vierzig Minuten. Er liegt mitten im Wald.«
»Vierzig Minuten?« Micha scho? sofort senkrecht in die Hohe und starrte ihn unglaubig an. »Willst du damit sagen, da? wir die Schei?koffer vierzig Minuten durch den Wald schleppen mussen?«
»Von selbst werden sie wohl kaum dahin laufen.«
»Na dann prost Mahlzeit«, seufzte Micha und lie? sich zuruck in das Kissen fallen.
Spater eroffnete ihm Tobias, da? er schon am nachsten Tag aufbrechen wollte. Micha versuchte ihn dazu zu uberreden, ein, zwei Tage abzuwarten, noch etwas auszuruhen vor dem Unternehmen Urzeit. Jetzt, wo ihr Ziel so nahe lag, wurde ihm die ganze Sache ziemlich unheimlich, und er suchte nach Grunden, um den Aufbruch hinauszuzogern. Tobias trug eine solche Selbstsicherheit zur Schau, da? die seine immer mehr ins Wanken geriet. Fur jemanden, dessen hochtrabende Ankundigungen sich sehr bald als reines Phantasieprodukt erweisen sollten, war er wirklich von einer bemerkenswerten Gelassenheit.
Was Micha nicht schaffte, besorgte ein Wetterumschwung. Fur die nachsten zwei Tage verzogen sich die Berge hinter dicke Wolkenpolster, und der Winter kehrte zuruck. Es schneite ununterbrochen. Das war dann doch nicht das Wetter, das sie sich fur ihren Aufbruch gewunscht hatten. Die meiste Zeit verbrachten sie dosend und lesend in ihrem Zimmer, was Micha nur recht war, Tobias aber von Stunde zu Stunde nervoser werden lie?. Er sa? vor dem Fenster, meditierte uber die unaufhorlich fallenden Schneeflocken und trommelte dabei ununterbrochen mit seinen Fingern auf das Fensterbrett. Als es wieder aufklarte, gab es fur ihn kein Halten mehr.
»Moment mal«, versuchte Micha ihn zu bremsen. »Du kennst das hier alles schon. Aber ich mochte mir doch diese Hohle, in die ich hineinfahren soll, wenigstens einmal vorher anschauen, wenn’s recht ist, ja.«
Was darauf folgte, konnte man mit Fug und Recht als ihren ersten handfesten Streit bezeichnen, aber es gelang ihnen nach langer Diskussion, einen Kompromi? zu finden. Sie wurden ihr Gepack in zwei Halften teilen und die eine heute, die andere morgen unmittelbar vor der Abreise zum Boot transportieren. Auf diese Weise hatte Micha noch einen Tag gewonnen, konnte wenigstens einmal einen Blick auf diese mysteriose Hohle werfen, und auch Tobias mu?te zustimmen, da? sie sich so die unvermeidliche Schlepperei wesentlich erleichterten.
Sie raumten die beiden Rucksacke aus und verstauten darin statt dessen einen Teil des Proviants. Mit den Rucksacken, dem Kanister und einem leeren Koffer beladen, in den sie am Boot angekommen die Vorrate wieder einpacken wollten, brachen sie dann endlich auf, wanderten an schneebedeckten Viehweiden vorbei in den Wald hinein. Es war kalt, aber Micha geno? die Luft und den frisch verschneiten Winterwald und wunschte, sie konnten es dabei belassen, konnten - moglichst ohne diese Massen an sinnlosem Gepack - einfach hier umherwandern wie ganz normale Bergtouristen und sich an der herrlichen Landschaft erfreuen.
Nach etwa einer halben Stunde gelangten sie an einen Flu?, dessen Lauf sie folgten, bis dieser in einen kleinen See mundete. Auf der Eisdecke lag jetzt eine frische, makellose Schneeschicht. Kaum hatten sie den See erreicht, stockte Micha der Atem, denn am gegenuberliegenden Ufer klaffte in einer vielleicht funfzig Meter steil aufragenden Felswand ein tiefes, schwarzes Loch: die Hohle.
»Das ist sie«, sagte Tobias und breitete voller Besitzerstolz seine Arme aus, als wolle er ihm in seiner unendlichen Gro?mut den See, die Berge, den Wald und die Hohle zu Fu?en legen.
»Sieht ziemlich unheimlich aus«, sagte Micha und wollte den Rucksack vom Rucken hieven.
»Warte noch! Das Boot liegt ein Stuckchen weiter dahinten.« Tobias war schon vorausgelaufen, und Micha folgte ihm, ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde von diesem gahnenden Loch in der Felswand abwenden zu konnen. Dort wollten sie hineinfahren? Verruckt!
Es war seltsam still hier, aber wahrscheinlich kam ihm das nur so vor. Er erkannte, da? der kleine See, der kaum mehr als hundert Meter Durchmesser aufwies, keinen Abflu? hatte, jedenfalls konnte er keinen entdecken. Der Flu?, an dem sie entlanggelaufen waren, mundete eindeutig in das Gewasser, schien aber nirgends wieder hinauszufuhren, sondern tatsachlich in die Hohle zu flie?en. Kurz vor dem Hohleneingang endete die Eis- und Schneeschicht, und man sah einen spiegelglatten Fleck pechschwarzen Wassers. Einzelne kleine Eisschollen hatten sich gelost und trieben in die Finsternis des Berges.
»Mannomann, das ist ja Wahnsinn«, murmelte Micha vor sich hin.
»Was sagst du?« fragte Tobias, der ein paar Meter vor ihm ging und sich jetzt umdrehte.
»Ich sagte, da? es Wahnsinn ist, da hineinzufahren.«
»Hast du Angst?«
»Du nicht?«
»Ein bi?chen, doch, klar hab ich Angst.« Er lief noch ein paar Schritte weiter und blieb dann stehen.
»Hier ist es!«
Das Boot beziehungsweise das, was man von ihm unter der dicken Schneeschicht noch erkennen konnte, war uberraschend gro?. Es sah so aus, als ob es zwei Ruderbanke hatte und sowohl im Heck als auch im Bug Sitzflachen, unter denen eine ganze Menge Stauraum vorhanden war. Irgendwie beruhigte ihn der Anblick des Kahns mit seinen vom Schnee abgerundeten Formen.
»Ich habe es Titanic getauft, weil es uns zu den Titanen fuhren soll«, sagte Tobias.
»Sehr sinnig.«
»Das haben die Leute damals auch gesagt.« Micha wuchtete endlich den schweren Rucksack von seinem Rucken und setzte ihn vorsichtig im Uferschnee ab. »Aber ich gebe zu, es gefallt mir.« Er grinste.
Zusammen machten sie sich daran, das Boot von den Schneemassen zu befreien, und wahrend Micha sich danach ans Ufer hockte, eine Zigarette anzundete und mit einer Mischung aus Faszination und Grauen auf die dunkle Hohle gegenuber starrte, sprang Tobias wieder in das Boot und zeigte ihm stolz allerhand Geratschaften, die er unter der Hecksitzbank hervorzauberte: eine Petroleumlampe, zwei angerostete Kanister, einen kurzen Spaten, einen Gummihammer, eine Axt, schlie?lich sogar eine Angel.
»Wo hast du denn das alles her?« fragte Micha erstaunt und belustigt zugleich. All das war seltsam unwirklich. In seinem Magen machte sich ein Kribbeln bemerkbar.
Tobias lachte. Er schien jetzt ganz in seinem Element zu sein. Sein geschaftiges Poltern, das von der gegenuberliegenden Felswand zuruckschallte, bildete einen seltsamen Kontrast zu der winterlichen Stille.
»Reich mir doch mal die Rucksacke ruber«, rief er Micha zu, wahrend er versuchte, den leeren Koffer unter die hintere Sitzbank zu schieben.
»Dacht ich mir’s doch! Absolute Ma?arbeit!« Tatsachlich pa?te der Koffer genau hinein. »Der zweite hat auch noch Platz.« Schlie?lich setzte er sich auf eine der Ruderbanke und schaute wie Micha uber die unberuhrte