»Halt! Nun warte doch mal! Ich komme mit.« Micha gestikulierte Claudia, sie solle das ubrige ihm uberlassen, und folgte Tobias, der schon zehn, zwanzig Meter vorausgeeilt war. Claudia und Pencil blieben zuruck.

Tobias redete auf dem Heimweg kein Wort. Er starrte stur geradeaus und stapfte verbissen durch den Schnee, aber man sah, da? es in ihm rumorte. Jeden zweiten Stein, der auf dem Pfad lag, beforderte er mit einem wutenden Fu?tritt in den Wald und wurdigte Micha keines Blickes.

In ihrem Hotelzimmer legte er dann los, uberhaufte Micha mit Vorwurfen, von Vertrauensbruch war die Rede, Gefahrdung des ganzes Projektes, von Ballast, den sie nun mitschleppen mu?ten, und er solle, verdammt noch mal, sehen, wie er ihnen die Frau wieder vom Hals schaffe, wenn er schon nicht in der Lage gewesen sei, die Klappe zu halten. Micha versuchte, ganz ruhig zu bleiben und ihm Claudias Anwesenheit irgendwie schmackhaft zu machen, aber Tobias blieb, bis sie schlafen gingen, stur.

Am nachsten Morgen war er schon vor Tagesanbruch auf den Beinen und polterte im Zimmer herum. Micha versuchte mit allen Mitteln, ihren endgultigen Aufbruch hinauszuzogern. Da sie diesmal neben den vollgepackten Rucksacken auch noch abwechselnd einen der schweren Koffer tragen mu?ten, kamen sie wesentlich langsamer voran als am Vortag, und er hoffte inbrunstig, da? Claudia es doch noch irgendwie schaffen wurde, rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein. Ihm lag mittlerweile eine ganze Menge daran, da? sie mitkam. Ja, er freute sich, da? sie da war. Innerlich begann er sich schon auf eine Auseinandersetzung mit Tobias einzustellen, falls er versuchen sollte, ohne sie abzulegen. Aber als sie bei dem Boot ankamen, sah er, da? seine Sorgen uberflussig waren. Claudia hockte schon auf einer der Ruderbanke und winkte ihnen zu, als sie naherkamen. Sie war wirklich hartnackig, das mu?te man ihr lassen.

Tobias sagte kein Wort zu ihr, verstaute schweigend den zweiten Koffer unter der Sitzbank, und auch als Claudia spater ihren Rucksack ins Boot reichte, zeigte er keinerlei Reaktion. Erst als sie alle drei in der Titanic sa?en, Tobias und Micha auf den beiden Ruderbanken, Claudia vorne im Bug und Pencil noch irgendwo am Ufer durch das Unterholz flitzte, machte er zum ersten Mal an diesem Morgen den Mund auf: »Was ist? Braucht dein Koter eine Extraeinladung?«

Claudia grinste, pfiff kurz durch die Zahne, und sofort scho? Pencil aus dem Wald, schuttelte sich den Schnee vom Fell und versuchte winselnd ins Boot zu kommen. Claudia wollte schon aufstehen, aber Micha sagte: »La?, ich mach das schon«, stand auf, kletterte hinaus und hob Pencil uber die Bordwand, der sofort vorne bei Claudia unterkroch.

Jeder, der sie hier beobachtete, mu?te sie fur vollig ubergeschnappt halten. Mitten im Winter hatten sie nichts Besseres zu tun, als auf einem gefrorenen See herumzurudern, beladen mit Gepack- und Ausrustungsmassen, die einer Weltumsegelung zur Ehre gereicht hatten. Aber der See, auf den sie hinausfuhren, war nur wenige hundert Quadratmeter gro?.

Micha loste die Leine vom Baum und stie? das Boot mit einem Tritt vom Ufer ab. Das Eis knirschte.

Es ging los.

Bald hatten sie die offene Wasserflache vor dem Hohleneingang erreicht und lie?en sich auf das gahnende Loch am Fu?e der fast senkrechten Felswand zutreiben.

»Was soll denn nun in der Hohle sein?« fragte Claudia, die sich umgedreht hatte und auf das schwarze Loch starrte. »Jetzt konnt ihr mir’s doch sagen. Seerosen ja wohl nicht, Pflanzen brauchen Licht.«

Die Arme, dachte Micha, sie hat noch weniger Ahnung, was uns da moglicherweise erwartet, als ich. Selbst wenn er ihr jetzt gesagt hatte, was er ja selber nicht glauben konnte, ware sie nicht mehr umgekehrt. Sie hatte es fur einen Scherz gehalten.

»Ich wei? es auch nicht«, sagte er und mu?te schlucken.

»La?t euch doch uberraschen«, sagte Tobias und beforderte sie mit einem kraftigen Ruderschlag durch das graue, jetzt aus der Nahe riesig wirkende Felsentor ins Innere des Berges. Kurze Zeit spater befanden sie sich schon einige Meter hinter dem Hohleneingang, vor ihnen nur noch undurchdringliche Schwarze.

»Mach mal unseren Scheinwerfer an, Micha!«

Tobias’ Stimme hatte in der nun vollig veranderten Akustik einen fremden, voluminosen Klang bekommen. Micha stutzte kurz, uberlegte, welchen Scheinwerfer er wohl meinte, dann kletterte er vorsichtig uber ihre Rucksacke zur Heckbank, wo die Petroleumlampe stand. Seine Hand zitterte. Erst beim dritten Versuch gelang es ihm, den Docht zu entzunden. Dann reichte er die Lampe nach vorne zu Claudia durch, die sie im Bug hochhielt.

Mit vorsichtigen Schlagen ruderte Tobias tiefer in die Hohle hinein. Micha blieb im Heck sitzen, stutzte sich auf seine Knie und war regelrecht paralysiert vor Spannung. Hier vorne in der Nahe des Eingangs bildete die Grotte ein riesiges Gewolbe, mindestens zehn Meter hoch und etwa doppelt so breit. Seltsamerweise wunderte er sich in diesem Moment daruber, da? hier noch kein Touristenrummel herrschte. So etwas sah man nicht alle Tage. Die Hohle war wirklich au?ergewohnlich. Sein Gehirn klammerte sich an diesen Einfall.

Soweit man erkennen konnte, verengte sich der Flu? weiter vorne. Als sie noch tiefer eingedrungen waren, schrumpfte der Hohleneingang zu einem blendend hellen Guckloch in die Au?enwelt zusammen. Was sie hier taten, war Wahnsinn.

»Huh, ist das gruselig«, sagte Claudia mit zitternder Stimme. Micha nickte und sah wie Tobias bei ihrer Bemerkung das Gesicht verzog.

Jetzt machte der Flu? eine Biegung, und als sie diese passiert hatten, erleuchtete nur noch das gelbliche Licht ihrer Petroleumlampe die Umgebung. Der Hohleneingang war verschwunden. Die einzigen Gerausche waren das vorsichtige Eintauchen von Tobias’ Ruderblattern und ein leises ununterbrochenes Glucksen und Tropfeln.

»Wie gro? ist die Hohle eigentlich?« fragte Micha und erschrak uber den drohnenden Klang seiner Stimme. Ihm fielen jetzt uberhaupt tausend Fragen ein, auf die er gerne eine Antwort gewu?t hatte, am besten drau?en am Ufer, bei einer gemutlichen Zigarette und einer dampfenden Tasse Tee. Es war empfindlich kalt hier drinnen, kalt und feucht.

»Ziemlich gro?«, sagte Tobias und stie? sie wieder ein Stuck weiter voran. Die Hohlenwande rechts und links kamen immer naher, waren vielleicht zu jeder Seite noch zwei Meter vom Bootsrand entfernt. Auch die Decke senkte sich zusehends, schwebte vielleicht noch drei Meter uber ihren Kopten. Sie fuhren wie durch ein riesiges, immer enger werdendes Felsenrohr.

Was, wenn sie hier einfach steckenblieben?

Plopp! Wie ein Stopsel, von der Stromung blockiert, kein Vor und kein Zuruck mehr. Gefangene tief im Inneren des Berges. Micha bekam ernsthafte Zweifel, ob er diesem Abenteuer wirklich gewachsen war.

Sie fuhren immer tiefer in die Hohle, und nichts anderte sich. Irgendwann horte Tobias auf zu rudern, und sie lie?en sich von der leichten Stromung treiben, achteten nur noch darauf, da? sie nicht gegen die Hohlenwand stie?en. Ein plotzliches Platschern lie? sie alle zusammenzucken. Irgendwo ergo? sich aus dem Fels ein Rinnsal in den Flu?.

Micha hatte jedes Zeitgefuhl verloren. Seine Uhr wollte ihm zwar einreden, da? sie erst funfzig Minuten unterwegs waren, aber aus irgendeinem Grunde bezweifelte er das. Zeit? War die hier uberhaupt gultig? Vielleicht waren schon Stunden vergangen?

»Aua!« schrie Claudia plotzlich und ri? ihn aus seinen Gedanken. Sie hatte sich an einem uberraschend auftauchenden Felsvorsprung gesto?en und rieb sich den Kopf. Tobias verdrehte die Augen. Wieder endloses Dahingleiten, ohne da? sich etwas tat. Irgendwann begann Pencil zu winseln.

»Halt ja den Koter fest!« zischte Tobias. Claudia hob Pencil auf ihren Scho?, aber der kleine Dackel wollte nicht wieder aufhoren. Es klang herzzerrei?end, er jaulte und heulte. Micha kam es vor, als ob der ganze Berg mitvibrierte.

»Kannst du ihn nicht abstellen?« Tobias drehte sich auf seiner Ruderbank zu Claudia um und musterte sie finster.

»Keine Ahnung, was er hat«, sagte sie und druckte Pencil noch fester an sich.

»Na, Schi? hat er, was denn sonst? Ich im ubrigen auch, verdammt noch mal. Das ist doch alles Wahnsinn«, sagte Micha. »Au?erdem ist mir schlecht.«

»Mir auch!« sagte Claudia und verzog das Gesicht.

»Wir kommen der Sache wohl naher«, meinte Tobias.

Micha war tatsachlich hundeelend zumute. In seinen Einge-weiden rumorte es beangstigend, und er hatte das Gefuhl, da? es ihm mit jedem Meter, den sie vorantrieben, schlechter ging.

»Welcher Sache?« fragte Claudia.

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