schwarzer als sonst. Dann geschah es.
Zuerst horte er nur ein Rauschen und Platschern, das langsam anschwoll. Er verspurte ein leichtes Schwindelgefuhl, Ubelkeit. Mein Kreislauf, dachte er und blieb vorsichtshalber stehen, tastete haltsuchend nach den kahlen Asten des Gestrupps am Wegrand, nach irgend etwas, woran er sich festhalten konnte. Seine Knie zitterten. Die Farben der umgebenden Landschaft verbla?ten, vertraute Konturen verschwammen wie hinter einer Milchglasscheibe. Grelle Lichtpunkte blitzten auf. Plotzlich leuchtete alles in einem intensiven Grun, und statt des Schiefers lag da eine glanzende Wasserflache. Der Wind peitschte ihm Regentropfen ins Gesicht, und er horte fremdartige Tierstimmen, das Rauschen der Baumkronen, das Rascheln der Palmwedel hoch uber ihm, ein Klatschen im Wasser. Die Brise trug ihm einen fauligen Geruch in die Nase, dann roch es plotzlich su? und schwer nach Blutenduft. Der See lag wie ein dunkler Spiegel vor ihm, rechts ein Meer von Seerosen. Dazwischen konnte er deutlich die Nasenlocher und Augenhocker eine gro?en Krokodils erkennen, das unbeweglich im Wasser lag und ihn zu mustern schien. Er stand ganz in der Nahe des Seeufers, und jetzt spurte er, wie Feuchtigkeit in seine Schuhe sickerte. Mit gro?er Muhe gelang es ihm, den Kopf zu bewegen und auf den Boden zu schauen. Seine Schuhe standen auf einer schwarzlichen Schicht halbverrotteter Blatter. Als er seine Fu?e hob, fullten sich die Abdrucke langsam mit Wasser. Plotzlich horte er ein seltsam vertrautes Gerausch, einen Schrei, den ihm wohl der Wind uber die Wasserflache zuwehte. Das war doch eine menschliche Stimme ...
Es war hei?. Hei? und feucht. Wie in einer Sauna.
Micha ri? die Augen auf, mu?te sie aber sofort wieder schlie?en, weil er von einer glei?enden Helligkeit geblendet wurde.
Das war unmoglich! Er traumte noch.
Langsam hob er erneut die Lider und blickte unglaubig uber den Bootsrand hinweg in eine endlose spiegelglatte Wasserwuste, uber der ein milchiger Dunst schwebte. In der Ferne nur schemenhaft auszumachen, ragten gezackte Berggipfel in einen diesigen Himmel. Es herrschte absolute Stille, nur das Glucksen des Wassers am Bootsrand war zu horen. Er wollte sich aufrichten, aber sofort lie? ihn ein pochender Schmerz am Hinterkopf innehalten. »Autsch! Was zum Teufel ...?«
»Ah, unser Steuermann ist aufgewacht«, horte er Tobias sagen. »Willkommen im Tertiar! Ist das nicht phantastisch?«
Claudia und Tobias sa?en in T-Shirts nebeneinander auf der vorderen Ruderbank und hatten sich beide zu ihm umgedreht. Tobias zeigte ein seliges Lacheln, wahrend Claudias Gesicht von Angst gezeichnet war. Sie sah aus, als ob sie mindestens zwei Nachte durchgemacht hatte.
»Tertiar, he?« sagte Micha und zwang sich trotz der Schmerzen in seinem Schadel ein Lacheln ab. Vorsichtig streckte er den Kopf in die Hohe und blinzelte in die blendende Helligkeit. Als er sich umdrehte, erkannte er in einiger Entfernung vom Boot eine zerkluftete Felseninsel. Waren sie daher gekommen?
Wo war die Hohle? Was war uberhaupt passiert? Er war ohnmachtig geworden, soviel war klar, aber .
»Es ist also wirklich wahr«, sagte er leise und rieb sich seinen schmerzenden Hinterkopf. Er fuhlte eine beachtliche Beule. Er mu?te sich irgendwo den Kopf gesto?en haben.
»Was hast du denn gedacht?« Tobias strahlte. Wenn er den Mund aufmachte, sendete sein Diamant helle Lichtblitze aus und gab ihm etwas Diabolisches. »Du hast nicht daran geglaubt, was?« Er lachte aus vollem Halse.
Nein, naturlich hatte er es nicht geglaubt, und irgendwie glaubte er es auch jetzt nicht.
»Meinst du nicht, du solltest dich jetzt langsam mal mit dem Gedanken vertraut machen, da? ich recht haben konnte?« Er stie? Claudia in die Seite. »Deine Freundin hier hat damit allerdings auch noch gro?e Probleme. Ich habe versucht, ihr alles zu erklaren, wo wir sind und die ganze Vorgeschichte, aber sie glaubt mir einfach nicht. Ihr pa?t wirklich prima zusammen. Kompliment!«
Sie war ein Bild des Jammers. Gerne hatte Micha ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, das alles hier sei nur ein besonders realistischer Traum, aber die Tatsachen sprachen einfach fur sich. Wenn das hier nicht das Tertiar war, dann hatte sie die Hohle, der Flu? oder was auch immer direkt nach Sansibar oder in die Sudsee verfrachtet, was mindestens genauso erstaunlich ware. Er war schwer angeschlagen, aber Claudia tat ihm wirklich leid. Sie hatte es unvorbereiteter getroffen als ihn. Das Lachen war ihr grundlich vergangen. Sie schuttelte wieder und wieder den Kopf und sah aus wie die personifizierte Ratlosigkeit.
»Wo ist eigentlich Pencil?« fragte sie kleinlaut. Ihre Augen wurden gro?er und blickten suchend umher.
Tobias’ gellendes Gelachter schallte uber das Wasser. »Da unten!« Er deutete nach vorne. »Hat sich verkrochen, der Armste.« Tatsachlich hockte Pencil zitternd unter der Sitzbank im Bug und schien sie mit gro?en, vorwurfsvollen Augen zu mustern.
»Vielleicht solltest du dich mal etwas zeitgema?er kleiden, Micha, sonst erkaltest du dich noch und verscheuchst uns mit deinem Geniese die Sabelzahntiger.«
Tobias’ gute Laune war penetrant. Er triumphierte.
Micha wischte sich den Schwei? aus dem Gesicht und zog die Windjacke und den dicken Pullover aus.
Von Norden wehte plotzlich ein leichter Wind uber das Wasser, und gleichzeitig horte man in der Ferne ein tiefes Rumpeln. Dann noch einmal. Sie drehten sich alle drei in die Richtung, aus der das Gerausch gekommen war.
»Vulkane«, sagte Tobias ganz selbstverstandlich.
Blodmann, tut so, als ob er das alles hier kennen wurde wie seine Westentasche, dachte Micha. Aber da war es wieder! Diesmal besonders laut, ein dunkles, machtvolles Grollen, faszinierend und fremdartig. Sogar Pencil kam jetzt aus seiner Deckung hervorgekrochen, stutzte sich aufrecht mit den Vorderpfoten an der Bordwand ab und starrte uber das Wasser.
Nach den wenigen Satzen, die sie gesprochen hatten, senkte sich bald eine bedruckende Stille uber das winziges Boot. Keiner sagte mehr etwas, sogar Tobias schwieg. Bis auf den Vulkan schien hier alles tot zu sein. Nichts ruhrte sich, selbst der Wind legte sich wieder, und die Titanic dumpelte in einer schwulen Backofenhitze dahin. Spater sahen sie in gro?er Hohe einige Vogel in Formation voruberziehen, erste und trostliche Vorboten einer belebten Welt. Aber was fur eine Welt war das hier? Micha bekam sofort Kopfschmerzen, wenn er daruber nachdachte.
»Was ist? Wollen wir mal ein bi?chen rudern?« Tobias schaute Claudia auffordernd an. Sie schuttelte den Kopf, erhob sich vorsichtig, damit das Boot nicht allzusehr schwankte, und setzte sich vorne in den Bug. Tobias zuckte mit den Achseln, ruckte in die Mitte der Sitzbank und griff nach den Rudern. »Na, gut. Dann eben nicht. Aber ich fang schon mal an, ja? Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Er schaute kurz auf seinen Kompa?, zog das rechte Ruder durch das Wasser, um die Titanic etwas zu drehen, und begann dann mit beiden Riemen kraftig zu rudern. Das Knarren des Holzes loste Micha aus seiner Erstarrung. Nach ein paar Minuten setzte er sich auf die andere Holzbank und griff nach dem zweiten Ruderpaar.
Den Tag uber ruderten sie ruhig, aber zugig, einerseits, um sich in der druckenden Schwule mit der ungewohnten Tatigkeit nicht zu uberanstrengen, andererseits war Rudern das beste und auch fast das einzige Mittel gegen die Angst. Micha zitterte wie Espenlaub. Das geringste Gerausch lie? ihn zusammenzucken. Die Angst war so elementar, so existentiell, da? irgend etwas in seinem Gehirn verhinderte, sie als solche uberhaupt wahrzunehmen. Claudia ging es nicht anders. Sie signalisierte mit ihrem ganzen Korper, da? man sie auf jeden Fall in Ruhe lassen sollte, und dafur, da? er das alles hier schon einmal erlebt hatte, wirkte auch Tobias ziemlich unruhig und in sich gekehrt.
Wenn Micha nicht ruderte, sa? er meist auf der hinteren Bank und blickte ihrer Fahrspur hinterher, beobachtete, wie die von den Ruderschlagen ausgelosten Wirbel sich beruhigten, die zuruckbleibenden Blasen sich langsam wieder auflosten, oder er starrte nach vorne auf die Bergkette, der sie sich unmerklich naherten. Unaufhorlich nagten dann Angst und Verwirrung an seiner Selbstbeherrschung, und mehr als einmal mu?te er den schier ubermachtigen Impuls bekampfen, sich der Ruder zu bemachtigen, das Boot zu drehen und wieder mit voller Kraft in Richtung Heimat zu fahren. Untatigkeit war Gift fur ihn in diesen ersten Tagen, und so versuchte er sich meistens irgendwie zu beschaftigen. Oft griff er zu seinem Tagebuch und fullte Seite um Seite mit ausufernden Schilderungen seiner Angst-und Wahnvorstellungen, die im Dunkeln schier ubermachtig zu werden drohten.
Nachts lie?en sie sich einfach treiben und versuchten zu schlafen. Es war entsetzlich eng und unbequem. Die erste Nacht war am schlimmsten. Micha hatte sich sogar noch einen Pullover ubergezogen, aber ihm war trotzdem