»... diesen Homo sapiens.« Schmaler hustelte wie eine alte Oma, die gezwungen war, das Wort Schei?e auszusprechen.

»Und?«

»Leider nichts Neues.«

»Verstehe.«

»Tja, tut mir leid, da? ich dir nichts anderes mitteilen kann.«

»Hm.«

»Helmut, wir mussen uns bald ganz in Ruhe zusammensetzen und uberlegen, was wir daraus machen.«

»Ja, das mussen wir, Gernot.«

»Aber jetzt ruft die Pflicht.«

»Naturlich, Gernot, ich verstehe.«

Ja, ja, dachte Axt, halt du dich nur raus, kneif deine faltigen Arschbacken zusammen und tu so, als ware nichts.

Er sa? eine Weile unbeweglich da und spielte mit Sonnenbergs Prachtkafer herum, der einen Ehrenplatz auf seinem Schreibtisch bekommen hatte. Wenn er den Kunstharzblock mit dem Kafer in die Sonnenstrahlen hielt, die auf seinen Schreibtisch fielen, loste das Licht auf den metallisch glanzenden Flugeldecken des Tieres ein wunderbares Spiel der Farben aus.

Plotzlich spurte er ein machtiges Gefuhl, das sich irgendwo in seinem Bauch herauszubilden begann, dann mit Macht an die Oberflache drangte und ihm das Wasser in die Augen trieb.

Stundenlang, nachtelang hatte er versucht sich fur diesen Moment zu wappnen, fur den Augenblick, da er dieses Phanomen in sein bisheriges Weltbild einordnen mu?te. Er hatte nach den abenteuerlichsten Erklarungen gesucht, hatte wilde, mitunter die Grenzen seiner Wissenschaft sprengende Theorien gewalzt, damit genau in der Situation, in der er sich jetzt befand, nicht alles aus den Fugen geriet.

Wenn alle anderen die Station langst verlassen hatten, war er in den Keller gegangen und hatte das Skelett nach oben transportiert. Voller Angst, jemand der anderen konnte vielleicht etwas vergessen haben und noch einmal zuruckkehren, sa? er noch lange vor dem Rontgenschirm und starrte das Skelett an, in der Hoffnung, irgend etwas Neues zu entdecken, irgendeine Kleinigkeit, die er bisher ubersehen hatte und die ihm das Ganze vielleicht erklaren konnte.

Bisher wu?te er nicht einmal genau, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. An einer einigerma?en frischen menschlichen Leiche ware die Geschlechtsbestimmung naturlich kein Problem gewesen. In diesem Fall hatte er aber nur ein Skelett, und, um genau zu sein, nicht einmal das, sondern nur das Rontgenbild eines Skeletts. Sogar er selbst, der er ja in gewissem Sinne vom Fach war, hatte bisher keine Vorstellung, wie schwer es sein konnte, das Geschlecht eines unbekannten menschlichen Gerippes zu bestimmen. Was in lebendem Zustand so unterschiedlich aussah, mu?te doch auch an Hand der Knochen leicht zu unterscheiden sein, sollte man meinen, aber weit gefehlt. Mit den Weichteilen schien auch die Geschlechtszugehorigkeit von den Knochen zu fallen und alles, was ubrigblieb, war eine Reihe von erstaunlich unprazisen Unterscheidungsmerkmalen, von denen viele uberraschenderweise im Kopfbereich lagen und keineswegs dort, wo man sie vielleicht vermutet hatte.

Beim Lesen war er unter anderem auf eine Tabelle gesto?en, in der ein skeptischer Anthropologe einmal zusammengestellt hatte, welches Geschlecht verschiedene Wissenschaftler fur jeweils dieselben Skelette herausgefunden zu haben glaubten. Das Ergebnis war niederschmetternd. Bei sieben untersuchten Skeletten - es handelte sich um Neandertaler, aber das anderte im Prinzip nicht viel -, waren sich die Forscher nur bei einem einzigen einig gewesen.

Auch was das Alter des Homo sapiens anging, war er nicht weitergekommen. War das nun ein Greis oder ein junger Mann? Die Suturen des Kopfes, die zackigen Nahte der Schadelknochen, boten normalerweise grobe, aber zuverlassige Anhaltspunkte. Aber gerade entlang dieser Nahte war der Schadel geborsten, so da? man nicht mehr erkennen konnte, in welchem Ma?e sie verwachsen waren.

Als das alles nichts nutzte, als er immer nur dieselben verwirrenden Details erkannte - die uberkronten Backenzahne, den Schatten der Armbanduhr, die gebrochenen Rippen, das geborstene Schadeldach, die Bruchstelle am linken Arm -, begann er andere Wege zu beschreiten. Es war ja nicht so, da? ihn sein wissenschaftlich geschulter Verstand im Stich gelassen hatte, ganz im Gegenteil. Er zog komplizierte physikalischchemische Prozesse in Erwagung, die moglicherweise eine Rolle gespielt haben konnten.

Seine aussichtsreichste Hypothese ging von einer Manipulation aus, naturlich, etwas anderes war hundertprozentig auszuschlie?en. Jemand hatte das Skelett in die Grube geschafft und es irgendwie bewerkstelligt, da? die Schieferstruktur dabei intakt blieb. Das Wie blieb vorerst ein Ratsel, aber das hie? ja nicht, da? dafur keine Erklarung existierte. Wenn er sich schon jetzt von solchen fehlenden Mosaiksteinchen im Theoriegebaude beeindrucken lie?, konnte er alle Erklarungsbemuhungen gleich einstellen. Lag das Skelett erst einmal im Schiefer, gab es moglicherweise chemische Prozesse, eine Art Osmose oder so etwas, Vorgange jedenfalls, die es moglich machten, da? die fur die Altersbestimmung relevanten Stoffe aus dem Schiefer in das Skelett diffundierten und schlie?lich die Analysegerate narrten. Das ware doch moglich. Das klang doch ganz plausibel. Warum kam Schmaler nicht auf so etwas, der gro?e Schmaler?

Das schone an dieser Theorie war, da? man mit ihr experimentieren konnte. Chemie, Diffusion, das war harte Wissenschaft. Wenn es stimmte, was er sich da zusammengereimt hatte, kame dies allerdings einer Art Bankrotterklarung der gesamten Fossilienkunde gleich, denn keiner der je und wo auch immer ermittelten Altersangaben ware dann mehr zu trauen. Aber das war im Augenblick sein geringstes Problem.

Wer konnte so etwas tun, und warum? Um das Opfer eines Mordes zu beseitigen? Da gab es sicherlich bessere Methoden als die skelettierte Leiche ausgerechnet Palaontologen vor die Fu?e zu legen.

Versuchte da jemand, die Anthropologie auf den Kopf zu stellen? Ihm fiel wieder das Buch ein, das die 65 Millionen Jahre alte Vormenschheit zu beweisen vorgab. Jemand, der solche abstrusen Theorien beweisen wollte? Irre gab es uberall, und es ware nicht das erste Mal.

Der beruhmte Piltdown-Schadel aus England war das beste Beispiel. Erst viele Jahrzehnte nach seiner Entdeckung Anfang des Jahrhunderts und nach langen hitzigen Debatten stellte sich heraus, da? es sich um eine ziemlich plumpe Falschung handelte und keineswegs um das erhoffte Missing link, das Verbindungsglied zwischen Affe und Mensch. Jemand hatte der Geschwindigkeit anthropologischen Erkenntnisgewinns etwas nachhelfen wollen und ein eiszeitliches menschliches Schadeldach mit einem Gorillakiefer kombiniert. Das erstaunliche war nur, da? der Schwindel so lange unentdeckt blieb und erst durch moderne Methoden der Altersbestimmung entlarvt wurde. Das Geschehen um den Piltdown-Menschen fuhrte sogar noch funfzig Jahre nach seiner Entdeckung zu einer Staatsaffare. Auf diesem Gebiet ging es eben um wesentlich mehr als um reine Wissenschaft, deswegen hatte Axt tunlichst die Finger von der Anthropologie gelassen. Hier spielten Religion und Weltanschauungen mit hinein, und diese Verbindung funktionierte meist nicht sehr gut.

Leider machte im Fall seines Messeler Homo sapiens auch diese schone Erklarung keinen Sinn. Wenn jener mysteriose Unbekannte die Vorstellung in die Welt setzen wollte, die Menschheit sei sehr viel alter als bisher angenommen, dann hatte er sich wirklich die Muhe machen sollen, seinem Skelett die Backenzahne zu ziehen und ihm die Armbanduhr abzunehmen. So war das Ergebnis einfach nur lacherlich.

Axt hatte also versucht sich vorzubereiten, sich ein Netz zu knupfen, damit er nicht ins Bodenlose fiel, wenn die Kontroll-untersuchung zu demselben Ergebnis kam wie Niedners Labor in Frankfurt. Und doch, trotz aller Vorsichtsma?nahmen, traf ihn diese Situation jetzt wie ein heimtuckischer Uberfall aus dunklem Hinterhalt, wie der Tod eines schwerkranken lieben Menschen, mit dem man immer rechnen mu?te und der einen doch vollig unvorbereitet uberwaltigt.

Er warf den Kunstharzblock mit dem Prachtkafer auf den Schreibtisch, sprang auf und lief ruhelos in seinem Arbeitszimmer umher. Aber der Raum wurde ihm bald zu eng, die Wande, die Decke schienen auf ihn zuzukommen, drohten ihn und alles andere im Raum zu zermalmen. Er griff nach seinem Mantel und sturzte aus der Tur.

Eigentlich wollte er nur raus aus diesem Gebaude, an die frische Luft, weg von dem Skelett. Ohne nachzudenken, lief er zur Grube hinunter.

Es war ein truber Tag mit tiefliegenden, grauen, von einem kraftigen Wind angeschobenen Wolken. Er schlug den Mantel zu und klappte den Kragen hoch. Wahrend er den Kiesweg hinter dem Eingangstor entlangschritt und in die Grube hinunterschaute, dachte er noch: Der Schiefer sieht heute tiefschwarz aus,

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