Schneeflache des Sees.
»Morgen geht’s los«, sagte er in die Stille hinein und lachelte dabei.
»Mhm«, machte Micha und zog so kraftig an seiner Zigarette, da? er husten mu?te. »Und wo ist der Eisbrecher?«
Tobias sagte nichts, sondern schlug mit dem Ruder auf das Eis. Es brach sofort. Wasser spritzte auf.
Plotzlich knackte es ganz in der Nahe im Wald, und ihre beiden Kopfe fuhren herum. Es raschelte, und dann war wieder Ruhe. Einen Moment spater klaffte irgendwo ein Hund.
»Komm, wir raumen den Koffer ein und gehen zuruck«, sagte Tobias und stand auf. Micha erhob sich ebenfalls, kletterte in das sanft schaukelnde Boot, und zusammen packten sie ihren Proviant aus den Rucksacken in den alten Koffer um. Anschlie?end schoben sie ihn wieder unter die Bank, legten die anderen Utensilien darauf und wollten gerade aus der Titanic klettern, als sie plotzlich eine Stimme horten, die Micha seltsam bekannt vorkam.
»Wo wollt ihr denn hin mit dem ganzen Zeug?«
Im nachsten Moment fegte ein kleines haariges Wesen durch das Unterholz und blieb hechelnd und mit Schnee bepudert am Ufer sitzen. Es war ein Dackel, ein Rauhhaardackel, der frohlich mit dem Schwanz wedelte. Micha bekam einen solchen Schreck, da? er fast aus dem schwankenden Boot gefallen ware.
»Mach’n Mund zu, es zieht!« sagte Claudia, die neben den Baum trat, an dem das Boot festgemacht war. Sie meinte Tobias, dem vor Verbluffung der Unterkiefer heruntergeklappt war.
»Du bist wohl Tobias?« fragte sie ihn und grinste.
»Kennst du die?« Er drehte den Kopf zu Micha und zeigte unglaubig auf Claudia.
»Ja«, sagte Micha, weniger verblufft uber ihr Erscheinen, als er es eigentlich sein sollte. »Das ist Claudia.«
»Und das ist Pencil«, sagte sie und deutete auf den Hund.
»Aha, und was habt ihr hier zu suchen?« fragte Tobias.
»Wieso? Ist das hier dein Privatwald?« antwortete Claudia herausfordernd.
»Wie kommst du denn hierher?« fragte Micha, kletterte aus dem Boot und baute sich neben ihr auf.
»Mit dem Morgenbus.« Sie zwinkerte ihm zu. »War nicht besonders schwierig, eurer Spur zu folgen. Ihr seid so auffallig wie zwei bunte Hunde. Ich hab den Leuten was vorgeheult, da? ich meine Freunde verloren hatte. Was meinst du, wie hilfsbereit die Menschen werden, wenn eine schluchzende junge Frau vor ihnen steht.«
»He!« rief Tobias, der immer noch im Boot stand. »Was soll das hier darstellen, ne Art Familienzusammenfuhrung oder was?« Er starrte sie feindselig an.
»Quatsch! Ich kenn sie vom Studium her. Sie ist Botanikerin, und ich hatte ihr damals die Pflanze gezeigt.«
»Was?« schrie Tobias. »Du hast ihr die Pflanze gezeigt? Ich hatte dich doch gebeten, niemandem davon zu erzahlen.«
»Jetzt mach aber mal halblang, ja!« gab Micha zuruck. »Du schickst mir diese bescheuerte Pflanze und willst wissen, was das ist, behauptest, sie sei aus der Slowakei. Warum soll ich da nicht jemanden fragen, der davon mehr Ahnung hat als ich, he? Wie sollte ich bei deiner beschissenen Geheimniskramerei wissen, was wirklich dahintersteckt?«
Er zeigte auf Claudia, die ihre Auseinandersetzung mit sichtlichem Vergnugen verfolgte. Wahrscheinlich hatte sie mit so etwas gerechnet. »Und au?erdem hatte ich keine Ahnung . ich meine, ich wei? auch nicht, wie sie darauf kommt, uns hierher zu folgen.«
»Fur wie blod haltst du mich eigentlich, Micha«, schaltete sich Claudia ein. »Diese Pflanze wachst weder in der Slowakei noch in Indonesien, sondern ist seit vielen Millionen Jahren ausgestorben, basta. Da hat mich naturlich interessiert, was dahintersteckt, wenn du entschuldigst. Und dann erzahlst du mir auch noch, da? du mit Tobias in die Slowakei fahren willst, genau dahin, wo die Pflanze ja angeblich herstammte, und mit demselben Tobias, uber den du dich kurz vorher noch schwarz geargert hast. Da hab ich eins und eins zusammengezahlt, und hier bin ich.«
»Schei?e!« sagte Tobias, hockte sich wieder auf die Sitzbank und fuhr sich mit beiden Handen durch die Haare. »Und was willst du nun hier, wenn ich mal fragen darf?«
»Na, ich komme mit euch, ist doch klar. Ich will auch wissen, wo diese Pflanze herkommt«, sagte Claudia selbstbewu?t.
»Dann hast du doch eine Karte kaufen wollen.« Claudia zuckte mit den Schultern und grinste Micha an.
»Was?« fragte Tobias aufgebracht.
»Ach, nichts!« Micha hockte sich ans Ufer und stocherte unschuldig mit einem Holzstockchen im Schnee herum.
»Also nur uber meine Leiche. Diese Tussi kommt mir nicht ins Boot«, sagte Tobias, kletterte aus der Titanic und begann wutend Steine auf das Eis zu werfen. Es antwortete mit einem seltsamen flirrenden Laut.
»Jetzt spiel dich hier blo? nicht als Chef auf, ja, sonst kannst du namlich gleich alleine losfahren.« Micha argerte Tobias’ Art, schlie?lich war Claudia eine Freundin von ihm, wenn auch hier sehr unerwartet. »Willst du sie wieder nach Hause schik-ken?«
»Mir ist vollig egal, was sie macht. Interessiert mich nicht. Mitkommen kann sie jedenfalls nicht.«
»Hor mal, sie ist Kugelsto?erin. Sie nimmt’s mit Leichtigkeit mit uns beiden auf und hat ne Bombenkondition. Au?erdem kennt sie sich mit Pflanzen aus. Warum soll sie eigentlich nicht mitkommen?«
Tobias sah jetzt seine Felle davonschwimmen. »Na fein! Hatt ich nicht von dir gedacht, Micha, da? du mir jetzt so in den Rucken fallst. Ich dachte, wir beide wollten diese Expedition durchfuhren.« Der Schwung, mit dem er die Steine auf den See schleuderte, lie? etwas nach. »Au?erdem reichen unsere Vorrate nicht fur drei.«
Claudia klopfte auf den riesigen, prallgefullten Rucksack auf ihrem Rucken. »Alles dabei«, sagte sie.
»Was ist mit Trinkwasser?« fragte Tobias. »Und die Tole?« Er zeigte auf Pencil.
»Wieso Trinkwasser? Hier gibt’s doch reichlich Su?wasser, oder etwa nicht? Und fur den Hund ist auch gesorgt. Au?erdem sucht der sich selbst, was er braucht.«
»Du hast ja keine Ahnung.« Tobias verdrehte die Augen und winkte verachtlich ab. »Er soll wohl kleine Dinosaurier rei?en, dein Raubtier, was?«
Pencil merkte wohl, da? sie uber ihn sprachen und mischte sich mit einem Knurren in die Diskussion ein. Tobias quittierte es mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.
»Wieso Dinosaurier? Was meint der damit?« fragte Claudia mit gerunzelter Stirn.
Micha ignorierte ihre Frage. »Wo wohnst du eigentlich? Mir ist immer noch schleierhaft, warum wir dich nicht schon vorher gesehen haben.«
»Nicht schlecht, was?« Sie schaute ihn neckisch an. »Ich bin gestern erst angekommen und wohne bei einem sehr netten alten Ehepaar.« Sie setzte mit spielerischer Leichtigkeit den enormen Rucksack ab. Tobias musterte sie von oben bis unten.
»Das mit den Dinosauriern verstehe ich immer noch nicht«, sagte sie. »Wo soll denn die Reise eigentlich hingehen? Hier gibt’s mit Sicherheit keine Seerosen, jedenfalls nicht um diese Jahreszeit.«
»Hat irgend jemand was von Seerosen gesagt?« schnaubte Tobias. »Du faselst die ganze Zeit davon.«
Micha wies auf die Hohle.
»Wie? Da hinein?«
Er nickte. Tobias machte irgendeine geringschatzige Bemerkung, die Micha nicht verstand.
»In die Hohle? Und dann?« Claudia war sichtlich verwirrt.
»Das hat doch alles keinen Zweck!« Tobias stand mit einem Ruck auf.
»Ihr braucht mich nicht fur dumm zu verkaufen.« Claudia hatte die Hande in die Huften gestemmt und schaute sie herausfordernd an. »Erklart mir doch lieber mal, was ihr eigentlich vorhabt. So schnell werdet ihr mich ohnehin nicht los. Wenn es dort, wo diese Pflanzen herkommen, noch mehr davon gibt, dann ist das eine Sensation - versteht ihr, was ich meine? -, eine absolute Sensation.«
»Wir fahren in die Hohle«, sagte Micha.
»Ja, das sagtet ihr schon einmal. Und dann?«
Er zuckte mit den Achseln. Da fragte sie den Falschen. Das wu?te er ja selbst gern. In die Hohle, und dann? Wahrscheinlich wurden sie im Dunkeln herumirren, gegen eine Felswand donnern und sich ein paar riesige Beulen an den Kopfen holen.
»Macht, was ihr wollt, aber ich geh jetzt zuruck«, sagte Tobias und marschierte los.