»Dem Zeitsprung«, antwortete Tobias und lachte schallend.
Es klang ohrenbetaubend, wie der Beginn eines Erdbebens.
»Was fur ein Zeitsprung? Wovon redet der?«
Micha war mittlerweile so kotzubel, da? er glaubte, sich jeden Augenblick ubergeben zu mussen. Au?erdem bekam er drohnende Kopfschmerzen. Sein Gleichgewichtssinn schien nicht mehr zu funktionieren. Alles drehte sich. War das die Angst? Auch Tobias verzog das Gesicht. Warum sagte er nichts? War ihm auch schlecht?
»Au, Mann, mir ist zum Kotzen«, stohnte Claudia. »Was, in Gottes Namen, geht hier vor?« Pencils Jaulen wurde noch lauter.
Tobias’ hageres Gesicht war eine verzerrte Maske. Er sah grauenerregend aus in dem schummerigen Licht. »Konnt ihr nicht mal die Klappe halten?« zischte er mit zusammengepre?ten Zahnen.
Micha hatte das Gefuhl, als ob ihm eine Schraubzwinge den Kopf zerquetschte, ganz langsam, Umdrehung fur Umdrehung. Gleichzeitig streikte sein Magen.
Dann ging plotzlich alles ganz schnell. Claudia schrie: »Da vorne! Ich sehe Licht!« Tobias lie? eine Art Triumphschrei los, Micha konnte sich nicht mehr beherrschen und spuckte sein sparliches Fruhstuck uber die Bordwand, und kurz danach verlor er wohl das Bewu?tsein, denn in seinem Gedachtnis fehlten spater ein paar Minuten.
4
Der Mann stand am Rande des Moores und blickte betroffen auf die graubraune tote Masse, die dort jetzt alles bedeckte. Nachdenklich kraulte er seinen wilden Bart, der schon seit Monaten keine Schere mehr gesehen hatte, und betrachtete die Gegend ringsum, uberprufte die anderen Landmarken, an denen er sich orientiert hatte. Noch einmal kniff er unglaubig die Augen zusammen. Aber es half nichts, er hatte sich nicht geirrt. Er kannte diese Stelle doch genau. Da druben am Berg hatte sich noch bei seinem letzten Abstecher in diese Gegend eine haushohe, uberhangende Wand aus Geroll und fester Erde befunden. Oft hatte er hier gesessen und in der heraufziehenden Dammerung dem Ausflug der Fledermause zugesehen, einem phantastischen Schauspiel, das alleine den strapaziosen Anmarsch hierher wert war. Zu Tausenden verbrachten sie in einer Hohle nahe der Mooroberflache den Tag.
Aber statt der Wand und der Hohle sah er nun nur ein verheerendes Bild der Verwustung. Der ganze Hang mu?te ins Rutschen gekommen sein und war in das Moor gesturzt. Es hatte stark geregnet in letzter Zeit. Moglicherweise hatte sich eine Schlammlawine gelost und schlie?lich den halben Berg mit ins Moor gerissen.
Es war zum Heulen. Die Fauna und Flora dieses relativ isoliert liegenden verlandenden Sees war einmalig gewesen. Naturlich waren der Wald und die darin liegenden Feuchtgebiete unerme?lich gro?, und er hatte bisher nur einen Bruchteil davon erkunden konnen, aber dieser Moorsee schien ihm doch etwas ganz Besonderes gewesen zu sein. Viele Endemiten, Pflanzen und Tiere hatte er nirgendwo sonst gesehen, sie schienen nur hier vorzukommen. Alles hin, unter meterdickem Schlamm und Geroll erstickt, wirklich ein Jammer. Sogar die Vogel waren verschwunden, die hier sonst so zahlreich nach Nahrung gesucht hatten.
Erdrutsche kamen vor, naturlich, noch dazu in einer Gegend wie dieser, wo sintflutartige Regenfalle niedergingen und sich innerhalb von Minuten rei?ende Sturzbache bildeten.
Aber da waren diese Explosionen gewesen, funf, sechs kurz hintereinander. Sie waren hier aus dieser Gegend gekommen. Er hatte jedenfalls schworen konnen, da? es so war. Zuerst hatte er gedacht, es seien die Vulkane, ein Ausbruch oder mehrere, aber die gro?en Bergkegel in der Ferne stie?en weiter ihre Rauchwolkchen aus und vermittelten ansonsten den Eindruck stoischer Ruhe.
Au?erdem hatten die Explosionen anders geklungen, scharfer, kurzer, fast wie Gewehrschusse, ohne das tiefe Grollen und Rumpeln, ohne das Beben der Erde, das er beim letzten Ausbruch der Vulkane trotz der gro?en Entfernung zu seiner Behausung verspurt hatte. Diese Explosionen hatten etwas Fremdes, Kunstliches an sich gehabt.
Seit er die erste Falle gefunden hatte, war er unruhig und nervos. Au?erdem war es nicht bei der einen Falle geblieben. Er hatte schon ein ganzes Arsenal davon aus dem Verkehr gezogen und war auch auf weitere Spuren gesto?en, die auf die Anwesenheit eines Menschen hindeuteten, abgeschlagene Baume und Straucher, ein Stuck ausgefranstes Seil.
Irgendwie wurde er das Gefuhl nicht los, da? auch dieser Erdrutsch auf das Konto des Unbekannten ging. Es wollte ihm jedoch absolut nicht einleuchten, was jemand damit bezweckte, einen Berghang loszusprengen und in ein Moor sturzen zu lassen. Das war blinde Zerstorungswut. Hier war ja wohl kein Ferienhotel, keine Dschungellodge oder so etwas geplant, fur das Platz geschaffen werden mu?te. Er lachte bitter.
Auf jeden Fall bedeutete es, da? er sich in Zukunft vorsehen mu?te. Er konnte sich hier nicht mehr so ungezwungen bewegen wie bisher. Er war nicht mehr allein. Es gab in diesem Wald noch jemanden, und wenn dieser Jemand hier wirklich seine Finger mit im Spiel gehabt hatte, dann mu?te er die Sache im Auge behalten.
»Sag mal, was hast du denn mit Niedner angestellt?« fragte Schmaler am Telefon. »Der war ja vollig au?er sich.«
»Ach, hat er gleich bei dir angerufen und gepetzt, ja?«
»Jaahh ...«, sagte Axt, »tut mir leid. Ich bin vielleicht etwas heftig geworden.«
»Ich kann mich nur wundern. Das ist doch sonst nicht deine Art. Was war denn los?«
»Hast du seinen Artikel nicht gelesen? Die Geschichte mit dem Halswirbel?«
»Ja, unerfreuliche Sache, aber, hor mal ...«, Schmaler rausperte sich, »so kannst du mit Niedner nicht umspringen. Das geht einfach nicht. Der Mann ist wichtig fur uns.«
»Ich war einfach . ja, total sauer. Ist das so schwer zu verstehen? Als ob wir nicht schon genug Probleme am Hals hatten. Er hatte sich doch wenigstens vorher mit uns in Verbindung setzen konnen.«
»Naturlich, das habe ich ihm auch gesagt. Aber was beunruhigt dich eigentlich so? Die Sache mit den Grabungsraubern? Mit denen hatten wir doch schon seit Jahren keine Probleme mehr.«
»Das hei?t ja nicht, da? sie einer so freundlichen Einladung widerstehen konnen«, sagte Axt. Vielleicht war er in der Hitze des Gefechts ein wenig uber das Ziel hinausgeschossen.
»Na ja, ich glaube, ich habe ihn wieder etwas besanftigen konnen. Hab ihm erzahlt, da? es dir nicht so gutgeht in letzter Zeit, und er zeigte sich sehr verstandnisvoll. Ich mu? dir ja nicht erklaren, wie wichtig sein Labor fur uns ist. Ohne ihn mu?ten wir unsere Proben zur Altersbestimmung um die halbe Welt schicken.«
So kannte er Schmaler, immer auf Schonwetter aus, immer ausgleichend, immer darauf bedacht, seine zahlreichen Kontakte und Beziehungen zu pflegen. Wahrscheinlich mu?te man in seiner Position so sein, aber Axt fand es widerwartig.
»Apropos Altersbestimmung. Da ware ubrigens noch etwas ...«
Axt hielt den Atem an. »Ja?«
»Ich habe kurzlich das Ergebnis der Kontrolluntersuchung aus Munchen bekommen .«
»Welcher Kontrolluntersuchung?« Axt stellte sich dumm, obwohl er genau wu?te, was Schmaler meinte. Er wollte ihn ein bi?chen zappeln lassen, wollte die beiden Worte, die ihn so qualten, aus seinem Munde horen.
»Na, du wei?t schon. Es geht um dieses .«
Ja, und