kalt. Beklemmende Angst und der Schock taten das ubrige. Wahrend Tobias bald leise vor sich hin schnarchte, konnte Micha lange kein Auge zutun, starrte nur mit klappernden Zahnen in die kalte Schwarze um sie herum und versuchte verzweifelt, seine amoklaufenden Gedanken im Zaum zu halten.
Auch Claudia schlief kaum. Sie lag mit offenen Augen da, zuckte bei jeder zufalligen Beruhrung zusammen, als wolle man ihr an die Gurgel springen. Erst jetzt, mit stundenlanger Verspatung, traf ihn die ganze Wucht der Erkenntnis, da? Tobias offensichtlich die Wahrheit gesagt hatte. Wie sollte man in einer solchen Situation schlafen? Es war ihm unmoglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Alles in ihm war in hochster Alarmbereitschaft. Schnatternd vor Angst und Kalte glaubte er immer wieder, irgendwelche schleichenden, schattenhaften Bewegungen in der Nahe des Bootes ausmachen zu konnen. Das gelegentliche leise Platschern des Wassers versetzte ihn derart in Panik, da? an eine ruhige, besonnene Analyse der neuen Lage nicht im Traum zu denken war.
Nicht einmal die Sterne boten Trost, im Gegenteil. In fremder, willkurlich erscheinender Verteilung blinkten sie vom Himmel auf ihre erbarmliche Nu?schale herab. Immer wieder versuchte Micha irgendwelche vertrauten Muster zu entdecken, aber da gab es nichts au?er chaotisch anmutenden Sternhaufen, denen keine irgendwie geartete Ordnung zu entlocken war, und je langer er hinaufstarrte, desto verlorener kam er sich vor.
Die Vogel, die sie tagsuber hin und wieder vorbeifliegen sahen, blieben das einzige Zeichen von Leben, das ihnen in den nachsten drei Tagen begegnen sollte. Abgesehen von den Bergen, die aber noch in gro?er Entfernung lagen, gab es nichts als Wasser, so weit das Auge reichte, Wasser und schwere feuchte Luft.
Bei alldem war Micha unbegreiflich, wie Tobias das bei seiner ersten Reise alleine geschafft hatte. Schon der blo?e Gedanke daran, hier allein, ohne jede Begleitung, auf dem Wasser zu schaukeln, machte ihn ganz krank. Sie redeten zwar kaum miteinander, aber wenigstens war er nicht allein.
Tobias hatte damals vier Tage benotigt, um das Wasser zu durchqueren. Das war die vage Aussicht, an die Micha sich klammerte, wenn er wieder mehr schlecht als recht eine Nacht uberstanden hatte, endlose Stunden in schwuler mondloser Dunkelheit, in denen er mindestens zehnmal aufwachte, weil er sich an der Ruderbank, den Rudern oder den Rucksacken stie? oder seine Gefahrten ihm beim Umdrehen den Ellbogen in die Seite gerammt hatten.
Als Micha wieder einmal auf der Heckbank hockte und wahrend der monotonen Bewegungen des Bootes versonnen die im Dunst zuruckgelegte Wegstrecke uberblickte, scho? ihm plotzlich ein Gedanke durch den Kopf, der ihn sofort alarmierte und ruckartig aufstehen lie?.
»He, Mann, pa? doch auf! Bist du verruckt?« rief Tobias, und Claudia kreischte vorn auf, weil das Boot durch seine abrupte Bewegung bedenklich ins Schaukeln geraten war.
»Konnt ihr mir mal verraten, wie wir hier wieder zuruckfinden sollen?« schrie Micha aus vollem Hals und zeigte mit weit aufgerissenen Augen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Schaut euch doch an, wie es hier aussieht.«
»Trostlos«, sagte Claudia mit versteinertem Gesichtsausdruck.
»He, he, beruhige dich, Micha!« sagte Tobias. »Wir mussen immer nur nach Osten fahren, genau nach Osten!« Er tippte auf seinen Kompa?, den er an einer Schnur um den Hals trug. »Uberhaupt kein Problem, glaub mir.«
Schlagartig fiel es ihm wieder ein: Tobias hatte es ja auch geschafft. Er war zuruckgekommen. Es ging also. Nach Osten, immer nach Osten!
Micha lie? sich wieder auf die Sitzbank sinken und atmete tief durch. Nach Osten.
»Alles wieder okay?« Tobias hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt. »Mach dir keine Sorgen! Die Insel mit dem Hohlenausgang ist ziemlich gro?. Man kann sie kaum ubersehen.«
Micha nickte. Besonders wohl fuhlte er sich nicht, aber er zwang sich mit aller Kraft daran zu denken, da? Tobias auch zuruckgefunden hatte, eine Methode, die sich auch in den nachsten Tagen bei ahnlichen Anfallen bewahrte. Aufregen half eh nichts mehr. Der Wahnsinn hatte seinen Lauf genommen.
Sie ruderten jetzt immer zu zweit, losten sich etwa im Stundenturnus ab, so da? sich jeweils einer ausruhen konnte. Kaum merklich war das Grollen und Rumpeln der Vulkane im Laufe der Zeit immer lauter geworden und hatte die Stille verdrangt. Aber die Einsamkeit und Verlorenheit, die Micha in dieser, Landschaft empfand, hatte nicht totaler sein konnen. Stundenlang sa?en sie im Boot, ruderten mit langsamen, aber stetigen Schlagen und sprachen selten.
Claudia war besonders schweigsam. Das pa?te nicht zu ihr und beunruhigte Micha. Aber was erwartete er eigentlich? Er war momentan auch kein sehr amusanter Gesprachspartner. Da sie die ganze Zeit uber auf engstem Raum zusammenhockten und jeder ununterbrochen unter Beobachtung der anderen stand, schienen sie sich alle so tief wie moglich in sich selbst zu verkriechen. Auch Tobias bildete da keine Ausnahme. Kaum einmal ein Lachen, nur unsichere Blicke.
Claudia sa? gerade vorne im Bug, kraulte mit einer Hand Pencil, der unter der Sitzbank lag, und schaute in Fahrtrichtung in den Dunst hinaus. Es herrschte absolute Flaute.
Wie das plotzliche Kreischen einer Motorsage zerschnitt ihr Schrei die Stille, und Michas Herzschlag machte einen Sprung. Sie horten sofort auf zu rudern und drehten sich um. Claudia zeigte auf eine Stelle im Wasser. Etwa zwanzig Meter schrag rechts vor der Titanic bildete sich aus dem Nichts eine gigantische blauwei?e Wasserblase, die immer gro?er wurde, schlie?lich zerflo? und den warzigen Rucken eines riesigen Lebewesens offenbarte. Eine meterhohe Dampf- und Wasserfontane scho? direkt neben ihnen fauchend in die Luft, und sie hielten alle starr vor Schreck den Atem an. Das Boot begann zu schaukeln. Noch ein Aufschrei. Pencil verkroch sich winselnd tiefer in sein Versteck. Meter fur Meter walzte sich ein von Seepocken, Muscheln und anderem Bewuchs bedeckter Ruk-ken durch das Wasser, bis die riesige Schwanzflosse eines Wals baumhoch und unverkennbar vor ihnen aufragte. Kurz danach erinnerten nur noch die sich auf dem spiegelglatten Wasser rasch entfernenden Wellenkreise daran.
Nach einem kurzen Moment verblufften Schweigens entlud sich ihre Anspannung in freudigem Gejohle und Gekreische. Sie hatten einen Wal gesehen, einen richtigen, lebenden, riesig gro?en Wal. Wie um ihnen eine Freude zu machen, tauchte er hundert Meter weiter wieder auf, blies seine Fontane in die Luft und verschwand schnaufend in der Tiefe. Diesmal begru?ten sie den Riesen mit lautem Geschrei.
Naturlich gab es danach stundenlang kein anderes Thema mehr. Sie mu?ten alle drei unwillkurlich daran denken, was die Menschen diesen grandiosen Kreaturen antaten.
»Wi?t ihr, da? Onassis, dieser Oberkapitalist, die Barhocker seiner Luxusjacht mit Walpenishaut beziehen lie??« fragte Claudia. »Wenn sich dann irgendwelche dickarschigen Damen darauf setzten, machte er anzugliche Bemerkungen wie: Ist ihnen klar, Madam, da? sie mit ihrem schonen Hintern auf dem gro?ten Penis der Welt sitzen?« Ihr Gesicht verzog sich voller Ekel.
Tobias hatte eine erstaunliche kleine Karte dabei, die er aus irgendeinem geologischen Fachbuch kopiert hatte - Europa im Eozan. Aber von den vertrauten Formen ihres Kontinents war da nichts zu sehen, statt dessen nur seltsam verschlungene Kustenlinien und wahllos im Ozean verteilte Inselgruppen.
Ihnen allen war klar, da? sich die vertraute Topographie der Erde im Laufe der Jahrmillionen, gelinde gesagt, verandert hatte. Genaugenommen war das Unterste zuoberst gekehrt worden. Aus Meerestiefen waren zackige Bergketten geworden, und ganze Gebirge wurden durch Luft und Wasser wieder zu Staub zermahlen. Sogar die Gipfelfelsen des Mt. Everest, uber 8000 Meter uber dem Meeresspiegel, bestanden aus biogenem Kalk, den zahllose winzige Meereslebewesen uber schwindelerregend lange Zeitraume hinweg gebildet hatten. Die den Menschen so vertrauten Kustenverlaufe und Umrisse der Kontinente waren erdgeschichtlich betrachtet nur vorubergehende, fluchtige Erscheinungen, wie eine Wustendune, die permanent Standort und Form verandert. Heutige Bezeichnungen hatten in diesen Zeiten keinerlei Bedeutung. Vollig andere, geheimnisvoll klingende Namen bezeichneten die geographischen Strukturen, Namen, die klangen, als entstammten sie Tolkiens Fantasy- Welten.
Naturlich wu?ten sie das alles, aber es nutzte ihnen nicht viel. Tobias’ kleine Kopie war ja wohl nicht ernst zu nehmen, und da man hier nirgends detailliertere Karten kaufen konnte, hatten sie keine Ahnung, wo sie sich augenblicklich befanden. Auch die magnetischen Pole hatten sich im Laufe der Jahrmillionen immer wieder umgekehrt. Was also wollte ihnen Tobias’ Kompa? sagen, wenn seine Nadel nach Norden wies?
Sie mu?ten sich wohl damit abfinden, auf absehbare Zeit in einer Wirklichkeit gewordenen Unmoglichkeit zu leben, so schwer das ihren naturwissenschaftlich geschulten - oder sollte man sagen: verbildeten - Gehirnen auch fiel. Nichts schien mehr festzustehen, alles war vollig neuartig, unbestimmt und bot reichlich Stoff fur hitzige Streitgesprache.
Der einzige in ihrer Gesellschaft, den das alles nicht zu kummern schien, war naturlich Pencil, der die meiste