Zeit des Tages in seinem Versteck unter der Bugsitzbank doste und nur zum Leben erwachte, wenn er uber die Bordwand gehalten werden wollte oder Claudia ihm eine Dose Hundefutter offnere. Das schlang er dann in sich hinein, als befande er sich zu Hause neben dem heimischen Herd. Die Banalitat seiner alltaglichen Bedurfnisse hatte etwas Trostliches inmitten all der Ungewi?heit. Au?erdem bot er einige der wenigen Anlasse fur Erheiterung, etwa wenn er im Schlaf immer wieder anfing, knurrend irgendwelche imaginaren Locher zu buddeln. Ihm fehlten eben die Baume, der Sand, die kleinen Dinge, die ein Hundeleben lebenswert machten.

In Richtung Westen, ihrer Fahrtrichtung, waren sie dem Festland so nahe gekommen, da? durch Tobias’ Fernglas vor den in gro?erer Entfernung liegenden Berggipfeln Einzelheiten eines braunen, flachen Landes erkennbar wurden. Au?erdem entdeckten sie etwas sudlich von ihrer Route eine breite Flu?mundung und anderten daraufhin ihren Kurs. Tobias hatte die Mundung schon vorher angekundigt. Es war immerhin beruhigend, da? wenigstens einer von ihnen wu?te, wo es langging.

Besonders verlockend war die Aussicht nicht. Alles in allem bot die sich nahernde Landschaft einen ziemlich trostlosen Eindruck. Keine Baume, nicht einmal ein paar mickrige Strau-cher, und an einen Dschungel war gar nicht zu denken. Je naher sie kamen, desto deutlicher wurde, da? der Flu? sie mitten in eine Wuste hineinfuhren wurde.

Trotzdem legten sie sich kraftig in die Riemen, um noch vor Einbruch der Nacht endlich das Festland zu erreichen. Zwei Stunden spater passierten sie die Flu?mundung, ruderten gegen eine schwache Stromung ein Stuck flu?aufwarts und suchten einen gunstigen Anlegeplatz. Sie einigten sich auf eine kleine sandige Bucht, und wenige Minuten spater betraten sie zum ersten Mal seit Tagen wieder festen Boden. Keiner war glucklicher daruber als Pencil, der, kaum horte er das Knirschen des Bootsrumpfes auf dem Ufersand, wie von der Tarantel gestochen aus der Titanic scho? und kreuz und quer durch die Gegend peste.

»Pencil!« brullte Claudia erschreckt. »Komm sofort zuruck!« Aber sie schrie sich vergeblich die Seele aus dem Leib.

»La? ihn doch! Er braucht Auslauf«, sagte Micha und sprang mit nackten Fu?en in das kuhle braune Wasser. »Ich kann selber kaum glauben, da? wir an Land sind.«

Wahrend Claudia sich vergeblich bemuhte, Pencil wieder einzufangen, der sich ein Spiel daraus zu machen schien und sie ganz nahe herankommen lie?, um dann wieder mit fliegenden Ohren und heraushangender Zunge zwischen den verstreut herumliegenden Felsbrocken hindurchzuhetzen, zogen Tobias und Micha die Titanic ans Ufer und vertauten sie an einem gro?en Felsen.

»Ich gehe mal’n bi?chen spazieren«, sagte Tobias ziemlich unvermittelt. Er wirkte unruhig und marschierte sofort los, ohne eine Reaktion abzuwarten.

Claudia, die inzwischen die Vergeblichkeit ihrer Bemuhungen eingesehen hatte, kehrte schwer atmend zum Boot zuruck und lachte. Es war das erste Mal, da? Micha sie lachen sah, seit sie in die Hohle gefahren waren.

»Puh, es hat keinen Zweck«, sagte sie. »Den kriegt keiner.«

Sie half ihm, das Zelt an Land zu transportieren, und entdeckte dabei die Angel. »Ohh, eine Angel, super! Ich versuch, uns ein paar Fische zu fangen«, rief sie, schnappte sich die Angel und den kleinen Spaten und stapfte im nachsten Moment schon im Ufersand flu?aufwarts.

»Es dammert bald«, rief Micha ihr hinterher.

»Da bei?en die Fische am besten«, horte er sie noch rufen. Dann war sie hinter einigen Felsblocken verschwunden. Pencil trottete hinter ihr her.

Statt das Zelt aufzubauen, hockte er sich auf einen Stein und betrachtete die Umgebung. Es war das erste Mal seit vielen Tagen, da? er fur einen Moment allein war, und er geno? es aus vollen Zugen. Sein Blick schweifte uber die Bergkette, uber die goldenen Brauntone der weiten Wustenlandschaft am anderen Flu?ufer. Im Westen verschwand die Sonne als roter Glutball hinter den Berggipfeln, und im Osten schimmerte die spiegelglatte Wasserflache eines Meeres, dessen Namen er nicht einmal kannte. In der diesigen Ferne verschmolz das Wasser, durch das sie gekommen waren, zu einer einzigen wei?en Linie am Horizont, die Erdball und Himmel zu trennen schien. Irgendwo dort lag auch die Hohle.

All das war wunderschon und majestatisch und gleichzeitig erschreckend fremdartig und beunruhigend. Er stand auf und lief am Flu? auf und ab, geno? es, wieder richtige Erde unter den Fu?en zu haben.

Schlie?lich entdeckte er an der kleinen Uferboschung ein paar Pflanzen. Neugierig betrachtete er die mickrigen Grashalme. Ein paar Meter weiter fand er sogar einige unscheinbar bluhende Krauter. Aber sah tertiares Gras genauso aus wie heutiges, wirkten tertiare Blumen irgendwie primitiver als die heimischen Ganseblumchen? Oder war das hier gar nicht das Tertiar?

Wenig spater kam Tobias zuruck und stutzte, als er ihn ansah. »Ist dir ein Engel erschienen, oder hast du dich heimlich uber unsere Vorrate hergemacht?«

»Wieso?«

»Du siehst so zufrieden aus.«

»Ja? Hm, vielleicht liegt das an den Pflanzen hier«, sagte Micha und zeigte auf die durren Halmchen in Ufernahe. Tobias schaute ihn kurz an.

»Wo ist eigentlich Claudia?«

»Fische fangen!«

»Hier?« Tobias schien uberrascht. »Na, hoffentlich ist sie erfolgreich.«

Er hatte sich wahrend der Tage im Boot nie wieder daruber beklagt, da? Claudia und Pencil jetzt mit ihnen fuhren. Aber sie wurde von ihm besonders kritisch beobachtet, und Micha hatte das Gefuhl, da? Tobias immer wieder nach Grunden suchte, die ihrer Anwesenheit fur ihn irgendeinen Sinn verliehen.

Wahrend Tobias unten am Ufer auf- und abschritt, qualte Micha sich an einer flachen, trockenen Stelle etwas oberhalb der kleinen Bucht mit den Zeltstaben und einer verwirrenden Vielzahl von Leinen ab. Er kannte dieses Zelt nicht und hatte keine Ahnung, was wohin gehorte. Als mit Macht die Dammerung hereinbrach, versuchte er immer noch, Ordnung in das Chaos zu bringen. Endlich gelang es ihm, mit vier Heringen den Boden des Zeltes zu fixieren. Der Rest ergab sich dann schnell von selbst.

»Wenn Claudia nicht sofort mit dem Abendessen kommt, mach ich mich uber unser Gulasch her«, rief Tobias vom Ufer hoch und rieb sich den Magen.

Micha fand auch, da? sie langsam wieder auftauchen konnte. Die Sonne war schon untergegangen, und es wurde jetzt rapide dunkel. Sie hockten sich nebeneinander unten ans Ufer und warmten sich die Hande an der kleinen Flamme des Petroleumkochers. Es wurde empfindlich kalt. Sie warteten.

»He, Jungs, schaut mal, was ich hier habe!« Claudia stand auf einem Felsen und hielt irgend etwas in die Luft. Micha konnte in der Dammerung nicht genau erkennen, was sie da in der Hand hielt, aber eines war sicher: Fische waren es nicht.

»Ach, das ist ja blo? Grunzeug«, sagte Tobias verachtlich, als Claudia kurze Zeit spater neben ihnen am Flu?ufer stand.

»Immerhin etwas Lebendiges. Ansonsten ist hier ja absolut tote Hose.« Micha schaute zu Tobias hinuber. »Sagtest du nicht etwas von einem Dschungel?«

»Ihr habt ja keine Ahnung!« sagte Claudia entrustet. »Blo? Grunzeug, Schachtelhalme sind das und was fur welche. Sie wachsen ein Stuck weiter flu?aufwarts in einer morastigen Mulde. Der einzige grune Fleck weit und breit. Hatt ich hier nicht erwartet.«

»Ich hab auch ein paar Pflanzen entdeckt«, sagte Micha.

»Und was ist mit Fischen?« fragte Tobias.

Claudia schuttelte den Kopf.

»Sag mal ...« Micha rieb sich nachdenklich das Kinn und betrachtete die feingliedrigen Gewachse, die Claudia mitgebracht hatte. Sie waren fur Schachtelhalme ziemlich gro?, fast einen Meter lang. »Sind so gro?e Schachtelhalme nicht eher typisch fur das Erdaltertum, Karbon und so?«

Er schaute zu Tobias, der den Blick sofort senkte und mit einer Hand im Sand herumspielte.

Sonntagnachmittagsschinken

Als Helmut Axt wieder zu sich kam, lag er am Rand des Kiesweges und blickte in das besorgte Gesicht von Max.

»Gott sei Dank, er kommt wieder zu sich«, rief Max, wahrend er sich nach hinten umdrehte. Er war ganz au?er Atem. Kurze Zeit spater kam Rudi schnaufend und hustend die Auffahrt hoch und lie? sich ebenfalls neben Axt nieder, der gerade versuchte sich aufzurichten.

»Bin ich ohnmachtig gewesen?«

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