»Was is’n mit Papa los?« fragte Stefan, der mit gro?en fragenden Augen in der Zimmertur stand.

»Papa geht’s nicht gut«, sagte Marlis und ging zu dem Jungen. »Komm, sei lieb, geh nach oben in dein Zimmer. Ich ruf dich, wenn’s Essen gibt, ja?«

»Okay«, sagte Stefan zogernd und versuchte noch einen Blick auf seinen Vater zu erhaschen, als Marlis ihn hinaus in die Diele schob.

Sie hockte sich neben Helmut auf den Teppich und strich ihm uber das Haar. Er weinte noch immer, verbarg das Gesicht hinter seinen Handen. Hinter ihm, auf der Mattscheibe, kletterten Kinder auf dem Stegosaurus herum und ma?en die Knochenplatten mit einem Ma?band. Sie beugte sich vor und schaltete den Apparat aus.

Die plotzliche Stille schien ihn aufzuwecken. In einem vollkommen ungeordneten Wortschwall brach alles aus ihm heraus. Er war betrunken und lallte, und sie hatte Muhe, ihn zu verstehen.

Marlis wurde es langsam unheimlich. Schon in Frankfurt hatte sie so ein komisches Gefuhl gehabt und war deshalb relativ fruh aufgebrochen. So hatte sie ihren Mann noch nie erlebt. Er war in einer absolut desolaten Verfassung, erst dieser Zusammenbruch in der Grube und jetzt das hier. Er hatte die halbe Flasche ausgetrunken. Am hellichten Tage schon betrunken. Sie hatte ihn nie alleine lassen durfen. Er redete vollkommen konfuses Zeug und sah aus, als ob er einer Nervenheilanstalt entsprungen ware.

»Pa? mal auf Helmut, was haltst du davon, wenn ich uns jetzt erst einmal einen starken Kaffee mache, hm? Und dann erzahlst du mir alles noch mal ganz in Ruhe. Aber zuerst bringe ich dich mal ins Bad. Vielleicht kommst du durch eine Dusche wieder zu dir.«

Sie fuhrte ihn ins Badezimmer. Wahrend er unter der Dusche stand, kochte sie schnell Kaffee. Irgendwann schlurfte er in seinen wei?en Frotteebademantel gehullt in die Kuche. Sie kauten stumm auf ein paar Keksen herum, tranken den Kaffee.

»So, nun fang bitte noch einmal von vorne an, ich meine, wirklich von Anfang an, und wenn moglich in der richtigen Reihenfolge.«

Sie hielt ihre Tasse zwischen beiden Handen und sah ihren Mann an, der mit gesenktem Kopf auf die Krumel auf seinem Teller starrte. Sein Loffel malte unsichtbare Figuren in das Porzellan.

»Na ja, es fing damit an, da? Max einen au?ergewohnlichen Fund machte, vor ein paar Monaten schon, und dann .«

Die Ralle

Wahrend Axt vor dem Fernseher sa?, betrat Familie Peters nur wenige Kilometer entfernt das Messeler Fossilienmuseum. Sie wollten eigentlich einen Waldspaziergang machen, aber dann hatte sie der Regen uberrascht. Daniel, der Sohn der Peters, war ganz verruckt nach Fossilien und hatte sie schon lange gelochert. Aber nach wenigen Minuten war klar, da? dieser Sonntag nachmittag kein reines Vergnugen werden wurde.

Es war immer dasselbe mit dem Jungen. Er setzte sich irgend etwas in den Kopf, terrorisierte mit seiner Sturheit tagelang die ganze Familie, triezte die Kleine bis zur Wei?glut mit seinen hinterlistigen Attacken, und wenn sie ihm dann nachgaben, um des lieben Familienfriedens willen das taten, was er wollte, war naturlich alles eine einzige Enttauschung, war nichts so, wie er es sich vorgestellt hatte, gab es Tranen und lange Gesichter. Mit diesem Museum war es genauso.

Das Haus schien nicht gerade aus allen Nahten zu platzen, jedenfalls waren die Peters offenbar die einzigen Besucher. Es war ziemlich schwierig gewesen, den alten windschiefen Fachwerkbau uberhaupt zu finden. Und es war ein sehr kleines Museum. Mehr als die zwei Mark Eintritt war es wirklich nicht wert. Au?erdem konnten sie irgendwo wenigstens einen Getrankeautomaten oder so was aufstellen, Gummibarchen oder Schokoriegel und Comics fur die Kinder anbieten. Die Deutschen hatten eben keine Ahnung, wie man so etwas aufziehen mu?te, damit der Laden lief.

Die Amerikaner waren da ganz anders. Letztes Jahr waren sie in Florida gewesen und hatten das Sea- World-Aquarium in Orlando besucht. Was er da erleben durfte, hatte ihn tief beeindruckt. Sogar Daniel war ausnahmsweise einmal zufrieden gewesen. Aber so eine spektakulare Reise war eben nicht jedes Jahr drin.

Peters blickte sich um. Wo steckte der Bengel? Ah ja, er lief im Nebenraum umher und lie? seine Hand mit entsetzlich gelangweiltem Gesicht uber das Vitrinenglas gleiten. So sehr ihn Daniels Verhalten auch provozierte, insgeheim mu?te er ihm recht geben. Dieses Museum war so aufregend wie die Streichholzschachtelsammlung seines alten Vaters, Gott hab ihn selig, verstaubte glaserne Kasten mit Skeletten, die toter nicht hatten aussehen konnen, lieblos prasentiert mit vollig unverstandlichen, uberfrachteten Schautafeln daneben. Peters’ Verstand pflegte angesichts der Zeitraume, um die es bei diesen Fossiliengeschichten ging, sowieso zu kapitulieren. Millionen, ja, Milliarden Jahre, wie sollte man so etwas begreifen? Ihm fiel es mitunter schon schwer, sich daran zu erinnern, was er letztes Wochenende gemacht hatte. Und was sollte dieses lateinische Kauderwelsch uberall, bei dessen Entzifferung er sich fast die Zunge verrenkte. Da verging einem doch gleich die Lust. Au?erdem gab es hier nur Krokodile, Schildkroten, Schlangen, Echsen und so etwas, alles Tiere, die selbst in lebendigem Zustand nicht besonders attraktiv waren, immer nur apathisch herumlagen und Daniel neulich im Frankfurter Zoo zu der berechtigten Frage veranla?t hatten, ob die denn uberhaupt echt seien.

Gut, da war dieses Urpferdchen, das wohl ziemlich beruhmt war, und vor dessen Vitrine er noch einmal vergeblich versucht hatte, Daniels Interesse zu wecken (»Das soll’n Pferd sein?«), aber, ehrlich, da war doch jeder lebendige Ackergaul tausendmal interessanter.

Schon von au?en hatte das alte Haus mit seinen Geranien und Yucca-Palmen in den Fenstern und dem holzernen Treppenaufgang eher wie eine Puppenstube gewirkt. Das hatte ihn schon warnen mussen. Das Haus war selber ein Fossil. Keine Spur von aufregender Wissenschaft. Unten am Eingang hatte sie dann diese alte Jungfer empfangen. Sie wirkte genauso verstaubt wie all dies tote Zeug hier. Er verstand das einfach nicht. Warum sie da nicht eine junge hubsche Frau hinsetzten, vielleicht ein bi?chen Zigeunerin, ein bi?chen Hexe, so was wie die Einarmige im Haiaquarium von Orlando, mit dunklen, unergrundlichen Augen, in denen irgendwie ein geheimnisvolles Feuer glomm, die unerme?lichen Tiefen der Zeit, das Wissen um die Verganglichkeit alles Irdischen oder so etwas in der Richtung.

Die Kleine begann zu plarren, und Elsbeth warf ihm einen flehenden Blick zu. Sie stand dahinten vor der Vitrine mit der Schildkrote, die aussah, als sei sie unter eine Dampfwalze geraten, und versuchte die Kleine zu beruhigen. Er wollte gerade nach Daniel rufen, als die aufgeregte Stimme seines Sohnes aus dem Nebenraum drang.

»Papa, komm mal her!«

Sollte er doch noch etwas gefunden haben, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte? Kaum zu glauben. Er bedeutete Elsbeth mit einer Handbewegung, da? sie sofort aufbrechen wurden, und ging hinuber. Daniel druckte sich dort an einer der Glasvitrinen die Nase platt.

»Du, Papa, Fossilien konnen doch nicht einfach verschwinden, oder?« fragte er, ohne sich von der Stelle zu ruhren.

»Naturlich nicht, wie kommst du denn darauf?« brummte Peters. Was war das nun wieder fur eine Schnapsidee?

»Na, eben waren hier noch Knochen, und jetzt sind sie weg.«

»Das bildest du dir ein. Sachen verschwinden nicht einfach von einem Moment auf den anderen.« Er stand jetzt hinter dem Jungen und hatte ihm beide Hande auf die Schultern gelegt. »Komm, Daniel, wir wollen gehen.«

»Aber es stimmt!« beharrte der Junge. »Guck doch selbst! Da ist nichts mehr.«

»Ich sagte, wir wollen gehen.«

»Ich hab aber recht! Ich will jetzt nicht gehen.« Er stampfte mit dem Fu? auf den Boden und pre?te beide Handflachen gegen das Glas.

»Du, werd jetzt nicht bockig, ja.« Nein, von ihm hatte er das bestimmt nicht. Er war als Kind ganz anders gewesen.

Peters zog den quengelnden Jungen von der Vitrine weg und schob ihn durch die niedrige Tur vor sich her in den Nebenraum. Wirklich gelungen, ihr Sonntagsausflug. Jetzt mu?ten sie sich auch noch durch den Ausflugsverkehr nach Hause qualen. Daniel wurde neuerdings immer schlecht im Auto. Schone Aussichten. Das war jedenfalls das letzte Mal, da? er dem Genorgel des Jungen nachgegeben hatte. Elsbeth war wohl mit der Kleinen schon vorausgegangen, jedenfalls war sie nirgendwo zu sehen.

Beim Hinausgehen blickte er noch einmal uber die Schulter. Da war tatsachlich nichts, nur dieses braunliche Zeug, in dem die Fossilien eingebettet waren. Darunter stand: Messelornis cristata,

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату