Messelralle, was auch immer das sein sollte. Ware doch wirklich nett, wenn sie sich wenigstens noch ein, zwei erklarende Worte abringen konnten.
Komisch, dachte er, wahrend er den Jungen voranschob. Na ja, vielleicht ist der oder die Ralle gerade zum Entstauben im Labor, oder wie das bei den Fossilienfritzen hie?. Konnte alles mal ein Staubtuch vertragen hier.
5
Seit vier Tagen ruderten sie nun schon durch diese Landschaft, und nichts schien sich zu verandern, eine endlose Stein- und Gerollwuste, in der zackige Felsgebilde aufragten wie marode Zahne im Maul eines Riesen. Flirrende Luft lag uber dem Land, das aussah, als hatten Frost und Hitze, Wind und Wetter uber endlose Zeitspannen hinweg ihr Zerstorungswerk getan und an dem schroffen Fels genagt, bis er irgendwann einmal zu Sand und Geroll zersprungen und zermahlen wurde. Diese Erde, wie jung sie auch immer sein mochte, sah schon uralt aus.
Micha wu?te nicht mehr recht, was er eigentlich erwartet hatte, ob er unbewu?t damit rechnete, alle Ungeheuer dieser Zeit wurden am Ufer Spalier stehen, Mannchen machen und sie mit ohrenbetaubendem Gebrull willkommen hei?en, aber er war enttauscht. Diese karge Verlassenheit, diese leblose Stille wirkte deprimierend und unheimlich, wie die Ruhe vor dem Sturm. Vogel, die mit ihren Stimmen fur etwas Auflockerung hatten sorgen konnen, schien es hier nicht zu geben. Es ruhrte sich nichts, jedenfalls nicht tagsuber, und wenn die Bewohner dieser Wuste nachtaktiv waren, dann waren sie sehr rucksichtsvoll und verhielten sich bei ihren nachtlichen Verrichtungen ausgesprochen still. In all den Tagen auf dem Flu? hatten sie nicht ein einziges lebendes Tier gesehen, und sei es noch so unbedeutend. Micha war nicht einmal mehr sicher, ob es wirklich Vogel gewesen waren, die sie da drau?en auf dem Meer gesehen hatten. Und der Wal? War das vielleicht auch nur Einbildung gewesen, eine Fata Morgana?
Langsam, kaum merklich, ruckte die Bergkette naher. Man erkannte jetzt deutlich einige schroffe Felsformationen, insbesondere zwei wie Zwillingsturme nebeneinander aufragende Felsnadeln, die sie King und Kong tauften. Hin und wieder trieben dicke Wolkenkissen uber die Berge, die sich aber oft bald wieder auflosten. Sie kamen von der anderen Seite, aber Regen brachten sie wohl nicht. Auch da vorne an den Berghangen gab es keine Baume, keinen Wald, das konnten sie jetzt durch das Fernglas eindeutig erkennen.
Sie hatten sich ziemlich schnell entschieden, die empfindlich kalten Nachte an Land zu verbringen, obwohl sie nicht wu?ten, was dort moglicherweise auf sie warten wurde. Keiner war nach den ersten Tagen besonders versessen darauf, noch eine Nacht in der Titanic zu schlafen. Sie verzichteten allerdings auf ihr Zelt und schliefen nur auf den Thermomatten, damit sie sofort verschwinden konnten, wenn die Wache Alarm schlug.
Aber alle ihre Befurchtungen erwiesen sich als ubertrieben. Die Nachte vergingen eine nach der anderen, ohne da? sich irgend etwas tat. Da es au?erdem wirklich keine besonders angenehme Beschaftigung war, drei Stunden in absoluter Dunkelheit und Gerauschlosigkeit auszuharren, ausschlie?lich damit beschaftigt, nicht einzuschlafen und auf das Lager aufzupassen, schafften sie die Wachen bald ab. Vielleicht war es leichtsinnig, aber sie hatten ja Pencil. Micha hatte selten eine gruseligere Zeit verbracht als diese wenigen, aber endlos erscheinenden Stunden seiner nachtlichen Wache. Nur der winzige Lichtfleck ihrer auf kleinste Flamme gestellten Petroleumlampe hatte vor ihm in der Nacht geschwebt wie ein einsames Gluhwurmchen, eher mitleiderregend als beruhigend. Immer wieder spielte ihm seine Phantasie einen Streich und gaukelte ihm zwischen den Felsen in seinem Rucken riesenhafte dunkle Schatten vor. Ohne dieses kleine Licht ware er vor Angst wahrscheinlich durchgedreht.
Mit der Sonne kam dann die Hitze, aber an der hei Tag und Nacht um sie herum herrschenden bedruckenden Grabesstille anderte sich nichts. Nur das Platschern beim Eintauchen der Ruder begleitete sie und gelegentlich das Heulen des Windes.
Hin und wieder tanzten kleine Wirbel aus Staub uber die Felsen und den ausgedorrten Boden.
Nur selten ragten direkt neben dem Flu? hohe Felswande auf, die Schatten auf das Wasser warfen und ihnen etwas Erleichterung verschafften. Gegen die geradezu brutale Sonneneinstrahlung gab es ansonsten au?er einem Regenschirm, den Claudia dabeihatte, kaum einen Schutz, so da? sie sich trotz dicker Cremeschichten schon Sonnenbrande auf Oberschenkeln, Schultern, Nasen und Armen zugezogen hatten. Besonders Tobias hatte es ubel erwischt. Sein Nasenrucken hatte sich mit einer blutigen Kruste uberzogen. Nach den schmerzhaften Erfahrungen der ersten Tage zogen sich die jeweiligen Ruderer jetzt trotz der Hitze lange Hosen an und legten sich feuchte Handtucher oder T-Shirts auf Schultern und Kopf. Die dritte Person konnte sich unter Claudias Schirm verkriechen. Pencil lag hechelnd unter dem Bugsitz.
Zwar gab es in den Windungen des Flusses durchaus geeignete Badestellen, und ihr Bedurfnis nach Erfrischung hatte kaum gro?er sein konnen, aber keiner von ihnen war besonders scharf darauf, in diesem Flu? zu schwimmen. Es war nicht nur das graubraune Wasser, das sie abschreckte. Claudia hatte zwar mit ihrer Angel trotz wiederholter Versuche noch immer nichts gefangen, aber das hie? ja nicht, da? da drinnen nicht doch so allerhand lebte.
Ihr mitgebrachter Trinkwasservorrat hatte gerade fur die Durchquerung der Meeresbucht ausgereicht und war mittlerweile aufgebraucht, so da? sie nun notgedrungen auf das lehmige Flu?wasser zuruckgreifen mu?ten. Anfangs kostete das einige Uberwindung. Aber das war nicht der Grund, warum Micha immer unruhiger wurde. Sie konnten die trube Bruhe ja filtern und abkochen, und au?erdem hatten sie einen gro?en Vorrat an Tabletten zur Wasseraufbereitung. Das war nicht das Problem.
Sie hatten genug zu trinken und zu essen, und das Gefuhl unmittelbarer Bedrohung, das Micha die ersten Tage im Boot so zu schaffen gemacht hatte, war mit der Zeit schwacher geworden. Hier gab es einfach nichts, und deshalb konnte ihnen auch nichts gefahrlich werden, jedenfalls nichts Gro?eres. Nein, er hatte keine Angst mehr. Auch Claudia nicht.
Es lag auch nicht daran, da? es ihm hier nicht gefiel. Nach einer guten Woche hatte er sich an die neue Situation gewohnt, die anfangs so ungewohnten Beschaftigungen waren fast zur Routine geworden. Und ganz egal, in welcher Zeit sie sich nun tatsachlich befanden, wenn man sich erst einmal eine Weile in ihr bewegte, fuhlte sie sich ziemlich real an, und er ertappte sich hin und wieder dabei, da? er gar nicht mehr daruber nachdachte, was hier eigentlich vor sich ging. Au?erdem war die Landschaft eindrucksvoll, geradezu atemberaubend, und naturlich gesetzt den Fall, man mochte Wusten, war es sicher einmalig, was ihnen hier geboten wurde. Besonders die Abende und der fruhe Morgen brachten unvergleichliche Stimmungen, herrliches Licht ...
Es war nur so, da? in der ganzen Zeit der Vorbereitung, in den vielen Gesprachen in Berlin und wahrend der Anreise nie von einer Wuste die Rede gewesen war.
Das Problem war Tobias.
Micha hatte ihn mehrmals darauf angesprochen, aber nur ausweichende oder absolut unbefriedigende Antworten bekommen. Trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen vermittelte Tobias in keiner Weise den Eindruck eines selbstbewu?ten Forschungsreisenden, der hier auf seinen eigenen Spuren wandelte und sie in das von ihm entdeckte Land fuhrte.
Wenn Tobias das alles schon einmal gesehen hatte, warum war er dann so nervos, warum mied er ihre Gegenwart und machte sich sofort aus dem Staube, sobald sie mit dem Boot irgendwo anlegten. Warum kletterte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Felsen und kleine Anhohen und suchte mit seinem Fernglas flu?aufwarts die Gegend ab?
Auf die Frage, wo denn nun der Dschungel sei, von dem er erzahlt habe, der Dschungel, aus dem die Seerose und der Prachtkafer stammten, und der ihm solche Angst gemacht hatte, da? er schlie?lich wieder umgekehrt war, auf diese wiederholten und immer drangender gestellten Fragen hatte er nur geantwortet, der Urwald lage noch einige Tagesreisen von hier, und unbestimmt in die Richtung der Bergkette gezeigt, aus der ihr Flu? zu kommen schien. Aber das war zwei Tage her und nichts, aber auch gar nichts deutete daraufhin, da? aus dieser trostlosen, toten Wustenlandschaft in nur wenigen Kilometern Entfernung ein uppiger Dschungel werden wurde.
Was also hatte das zu bedeuten? Hatte sich die Gegend etwa verandert, seit Tobias das letzte Mal hier