»Nun zeigen Sie mir mal Ihre beruhmte Grube, Dottore«, sagte Di Censo, nahm mit weit ausgreifenden Schritten den ganzen Raum in Besitz, schaute dem ungeruhrt weiterarbeitenden Lehmke uber die Schulter und steckte sich, ohne zu fragen, eine von Sabines Pralinen in den Mund, die stets auf ihrem Tisch herumlagen.
»Und wen haben wir hier?« Er baute sich vor Sabine auf, die mit einer Mischung aus Ekel und Faszination an ihm emporschaute und rot anzulaufen begann.
Axt trat schnell dazu, um eine Katastrophe zu verhindern. »Das ist Dr. Schafer, unsere Fledermausexpertin.«
»Ahhh«, machte Di Censo, »ich bin entzuckt, che gioia.«
Er ergriff ihre Hand, schaute ihr tief in Augen und sagte: »Gestatten, Graf Dracula, hahaha .«
Sabine lachelte verkrampft und lie? zu, da? er ihre Hand ku?te, nachdem sie Axts flehenden Blick empfangen hatte.
»Nun kommen Sie, Dottore, zeigen Sie mir Ihre Schatze. Ich habe leider nur wenig Zeit.«
»Ah, ich mu?te eigentlich ... Aber, na gut, wenn es nicht allzulange dauert.« Es hatte wohl wenig Sinn, sich diesem Orkan zu widersetzen.
»Hahaha, immer beschaftigt, immer unserer Gottin, der Wissenschaft, zu Diensten. Das gefallt mir. Aber ein halbes Stundchen mussen Sie mir schon opfern, Dottore, sonst bin ich sehr, sehr bose auf Sie.«
Axt konnte sich lebhaft vorstellen, was das bedeuten wurde, und lief hinuber in sein Arbeitszimmer, um den Mantel zu holen. Di Censo blieb solange neben Sabine stehen, betrachtete sie prufend wie ein Metzger eine frisch gelieferte Rinderhalfte, lachelte sie dann mit seinen vollen Lippen an und verfolgte belustigt, wie sich in der Wissenschaftlerin vor seinen Augen ein Ausbruch von au?erordentlicher Heftigkeit anbahnte.
Axt rettete die Situation, indem er kurz entschlossen zwischen die beiden trat.
»Ich bin dann soweit. Wir mussen dort entlang«, sagte er, und Di Censo nickte verstandnisvoll. Drau?en konnte Axt durch das Fenster gerade noch erkennen, wie Sabine aufsprang und wild gestikulierend umherlief.
Dr. Emilio Di Censo stammte aus einer steinreichen Industriellenfamilie. Er gehorte zu der sehr selten gewordenen Spezies der Privatgelehrten, lebte von seinem Vermogen und ging seinen Studien nach. Er war ein weltweit anerkannter Experte fur fossile Insekten und hatte verschiedene Bucher veroffentlicht, die als Standardwerke auf diesem Gebiet galten. Auch wenn seine operettenhafte Erscheinung es nicht ohne weiteres vermuten lie?, er war ein exzellenter Wissenschaftler mit einem messerscharfen Verstand. Axt hatte bei verschiedenen Gelegenheiten miterlebt, wie Di Censo lochrige Argumentationsketten und schlecht vorbereitete Vortrage mit geradezu chirurgischer Prazision auseinandernahm und die bedauernswerten Referenten als zitternde Haufchen Elend zurucklie?.
Bald standen sie unten in der Grube, und Di Censo rutschte mit seinem hellen Mantel und den teuren italienischen Schuhen in dem dreckigen, schmierigen Schiefer herum. Er war vor Begeisterung schier aus dem Hauschen, obwohl es au?er unansehnlichen Gesteinstrummern, dreckigen Plastikplanen und rostigem Bohrgestange buchstablich nichts zu sehen gab. Max und Rudi, die hier unten Ordnung schaffen sollten, verfolgten Di Censos Darbietung mit stoischer Gelassenheit.
Axt lud Di Censo noch zu einem kurzen Abschiedskaffee in sein Arbeitszimmer ein und achtete darauf, da? sein Gast auf dem Weg dahin nicht bei der in Alarmstimmung befindlichen Sabine hangenblieb.
Sie sa?en schon ein paar Minuten zusammen und plauderten, als Di Censo zielsicher nach dem Kunstharzblock mit Sonnenbergs Prachtkafer griff. Er betrachtete das Tier eingehend, legte die sonnengebraunte Stirn in Falten und brach dann in wieherndes Gelachter aus.
»Haha, ein schones Stuck. Wer hat Ihnen das denn gemacht?«
»Wieso gemacht?« fragte Axt verblufft. »Ach, Sie meinen, wer ihn in das Harz eingebettet hat? Das wei? ich nicht. Das Tier stammt jedenfalls aus Mittelamerika, Costa Rica, soviel ich wei?. Ich fand es verbluffend, wie ahnlich es unseren Messeler Prachtkafern sieht.«
Di Censo warf Axt einen Blick zu, der ihn auf das Format eines Uberraschungseimannchens zusammenschrumpfen lie?. Der Mann hatte eine Ausstrahlung, vor der man nur vor Neid erblassen konnte. Axt wunschte, ihm hatte in den letzten Wochen nur ein Bruchteil dieser Kraft zur Verfugung gestanden.
»No, no, no, caro amico.« Di Censo betrachtete den Kafer von allen Seiten. »Das ist eine Falschung, eine verdammt gute, das mu? ich sagen. Ich komme gar nicht dahinter, wie das gemacht wurde. Aber, glauben Sie mir, so einen Kafer gibt es heute weder in Mittelamerika noch sonstwo, impossibile, absolutamente impossibile. Da wollte Sie jemand auf den Arm nehmen, Dottore.«
Axt war vollig perplex. »Meinen Sie das im Ernst?«
»Si, si.« Er machte jetzt ein nachdenkliches Gesicht, ganz der Wissenschaftler, der sich herausgefordert sah. »Ich kenne diese Tiere sehr gut. Es gibt heute nicht allzu viele von diesen gro?en bunten Arten auf der Welt, und die mittelamerikanischen Spezies sehen anders aus, ohne diese bronzefarbenen Streifen. Nein, das ist eine Falschung, ein ganz bemerkenswertes Stuck.« Kopfschuttelnd stellte er den Harzblock auf den Schreibtisch zuruck, von wo aus er sofort in den Handen von Helmut Axt landete.
»Das ist ja ein Ding! Altes Schlitzohr!« Axt dachte gerade an sein Gesprach mit Sonnenberg, als der gellende Schrei einer Frau aus dem Praparationsraum drang. Di Censo sah ihn tragend an, dann sprangen sie auf, sturzten aus dem Zimmer und trafen auf eine leichenblasse, zitternde Sabine Schafer, die entgeistert auf einen der Holzrahmen zeigte, in denen sich ihre Fossilien befanden.
»Was ist denn los?« fragte Axt atemlos.
»Sie ist weg!« »Wer ist weg?«
»Meine
»Was meinst du damit, sie ist weg?«
»Na weg, verschwunden, in Luft aufgelost, was wei? ich.« Sie zitterte am ganzen Leib.
»Das ist doch vollig unmoglich.« Axt trat naher und fand in dem Holzrahmen nur eine makellose, feuchtigkeitsglanzende Kunstharzplatte. »Du meinst, sie war da drin?«
»Haltst du mich fur vollig bescheuert, oder was?« Sie funkelte ihn bose an. Auf ihren geroteten Wangen glanzten die Spuren von Tranen. »Ich habe wochenlang daran gearbeitet. Es war eine
»Das begreife ich nicht.«
In Axts Rucken rausperte sich jemand. Er drehte sich um und schaute in Di Censos Gesicht. Der Italiener sah aus, als sei er sich nicht mehr so sicher, ob hier noch alle bei Verstand waren.
Alois Sonnenberg sa? an seinem Schreibtisch und rieb sich die schmerzende Hufte. Es war erst Mitte Marz, aber vor zwei Tagen war plotzlich ubergangslos der Sommer mit Temperaturen um die funfundzwanzig Grad ausgebrochen. Solche rapiden Wetterwechsel machten seiner ladierten Hufte immer schwer zu schaffen.
Unabhangig von dem abrupten Temperaturwechsel beherrschte ihn seit einiger Zeit eine qualende Unruhe, die von Tag zu Tag schlimmer wurde. Nicht da? er erwartet hatte, etwas von Tobias und seinem Freund zu horen. Da, wo die beiden sich jetzt wahrscheinlich aufhielten, gab es weder ein Postamt noch sonst irgend etwas, das auch nur im entferntesten an zivilisierte Einrichtungen erinnerte. Aber ihm war eingefallen, da? er dem Jungen viele sehr wichtige Dinge nicht mehr hatte sagen konnen. Er war so aufgeregt gewesen, so begeistert und uberwaltigt von der Aussicht, endlich jemanden gefunden zu haben, der den Mut und die Befahigung dazu hatte, in seine Fu?stapfen zu treten, da? er vieles schlicht vergessen hatte.
Au?erdem, seine eigene Reise - war es moglich, da? es schon so lange her war? - lag nun schon mehr als zwanzig Jahre zuruck, und was lie? ihn eigentlich glauben, da? alles noch so war, wie er es damals erlebt hatte? Woher kam seine Zuversicht, da? es die Passage uberhaupt noch gab? Vielleicht war die Hohle eingesturzt, oder dahinter, auf der anderen Seite, sah alles ganz anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Er machte sich schwere Vorwurfe, da? er die beiden jungen Leute hatte fahren lassen, nur weil ihn Tobias’ Erregung irgendwie mitgerissen hatte und die Aussicht auf frisches Forschungsmaterial fur ihn so unwiderstehlich gewesen war.
Da war zum Beispiel die Sache mit der Meeresbucht. Er hatte immer nur von einem Flu? gesprochen, dem sie folgen mu?ten, aber dann war ihm wenige Tage vor Tobias’ Abreise plotzlich eingefallen, da? die Hohle sie zunachst in eine gro?e Meeresbucht entlassen wurde und die Mundung des Flusses, dem sie folgen sollten, einige Tagesreisen in westlicher Richtung entfernt lag. Zu seinem gro?en Entsetzen hatte er das vollkommen vergessen. Aber anstatt von dem ganzen Vorhaben Abstand zu nehmen oder wenigstens die Abreise zu verschieben, hatte