gewesen war? Wohl kaum. Wie sollte in einem halben Jahr aus einem Dschungel eine Wuste werden? Oder hatte sie die Hohle diesmal vielleicht in eine ganz andere Zeit versetzt? Oder an einen anderen Ort? Die Hohle und das, was sie mit ihnen gemacht hatte, war so verruckt, so jenseits von allem, was bisher fur ihn Gultigkeit besessen hatte, da? Micha ihr nun buchstablich alles zutraute.
Er hatte auch mit Claudia daruber gesprochen, aber da er sie nicht weiter beunruhigen wollte, hatte er nur gefragt, ob sie mit dem sparlichen Pflanzenwuchs etwas anfangen konne, der sich hin und wieder am Flu?ufer zeigte. Er war froh, da? sie ihre anfangliche Sprachlosigkeit endlich uberwunden hatte und langsam wieder die alte wurde, und da wollte er sie nicht gleich mit einer erneuten Hiobsbotschaft vor den Kopf sto?en. Vielleicht bildete er sich das alles nur ein. Mit seiner Neigung zu paranoiden Zwangsvorstellungen hatte er ja schon in Berlin einschlagige Erfahrungen sammeln konnen und mu?te nicht noch andere Leute damit anstecken. Er vermied es daher, mit Tobias daruber zu reden, solange sie dabei war.
Leider sagten Claudia die Pflanzen gar nichts, auch nicht die Schachtelhalme. Das sei eine so alte Pflanzengruppe, da? praktisch alle Erdzeitalter der letzten 300 Millionen Jahre in Frage kamen, sagte sie. Aber es sprach zumindest nicht gegen das Tertiar. Es war ihr anzumerken, da? sie keineswegs davon uberzeugt war, sich hier wirklich in einer anderen Zeit zu bewegen. Auch Micha fand, da? die sparlichen Grashalmchen und Krauter, die sich hier halten konnten, wenig Altertumliches an sich hatten, und war verunsichert.
Am Nachmittag des vierten Tages auf dem Flu? steuerten sie schon relativ fruh das Ufer an, weil sie ihren Wasservorrat wieder auffullen mu?ten. Das Filtern des lehmigen Flu?wassers dauerte Stunden. Im Boot, wahrend der Fahrt, war es zu eng, und es bestand die Gefahr, da? sie alles wieder verschutteten.
Als Claudia sich spater mit Pencil vom Lagerplatz entfernte, und er mit Tobias unten am Flu?ufer neben dem Wasserkanister hockte, hielt Micha die Gelegenheit fur gunstig, Tobias noch einmal darauf anzusprechen.
»Ich versteh das nicht«, sagte er. »Wir mu?ten doch schon lange da sein. Du hast nie davon gesprochen, da? wir vorher tagelang durch eine Wuste fahren mussen.«
Tobias blickte nicht einmal auf. Wortlos schopfte er Wasser und filterte es durch das Handtuch in den Kanister.
»Tobias, ich hab dich was gefragt!«
»Hinter der Bergkette«, brummte er, ohne in seiner Beschaftigung innezuhalten.
»Wie bitte?«
»Wir mussen uber die Berge.«
Micha glaubte, sich verhort zu haben. Uber die Berge? Das war ja etwas ganz Neues. Bisher hatte es immer gehei?en, einige Tagesreisen von hier, kurz vor der Bergkette, aber da waren die Berge so weit entfernt gewesen, da? man au?er ihren Umrissen kaum etwas erkennen konnte. Sie wu?ten mittlerweile, da? es da vorne mit Sicherheit keinen Wald gab.
»Davon war nie die Rede. Du willst da ruber?« Micha richtete sich auf und schaute flu?aufwarts. Es wurde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne hinter den Gipfeln verschwunden war. King und Kong ragten wie zwei Wachturme in den wolkenlosen Himmel. Wie hoch waren sie? Das Ganze sah aus wie eine riesige Barriere. Fur Micha hatte sie bisher eindeutig signalisiert: Halt! Bis hierher und nicht weiter.
»Ja, doch, was ist denn?« Er hob den Kopf, schaute Micha an und zuckte mit den Schultern. »Ich sag doch. Wir mussen uber die Berge.« Seine Augen flackerten. Hatte er Angst? Was war nur los mit ihm?
»Und wieso sagst du das erst jetzt?«
Da stimmte doch etwas nicht. Micha war fest entschlossen, nicht locker zu lassen. »Du erzahlst doch irgendwelche Schei?e! Du wei?t selber nicht, was hier los ist. Wir sind irgendwo anders gelandet, stimmt’s?«
Tobias zuckte zusammen. »Quatsch! Wie kommst du denn darauf?«
Micha hatte schworen konnen, da? Tobias keine Ahnung hatte, wo sich dieser verdammte Dschungel befand. Aber er hatte die Seerose und den Kafer mitgebracht. Er mu?te dort gewesen sein. Oder ...
Plotzlich hatte er einen Verdacht, der so schrecklich war, da? ihm schon bei dem blo?en Gedanken daran schwindlig wurde. Er hatte ja schon alles mogliche in Erwagung gezogen, aber vor diesem Gedanken, der ihm buchstablich den Boden unter den Fu?en wegzog, war er bisher zuruckgeschreckt. Alles ware plotzlich wieder offen, die Konsequenzen gar nicht absehbar. Nein, das war unmoglich. Soweit ware er nicht gegangen.
Micha beobachtete, wie Tobias mit gesenktem Kopf weiter Wasser schopfte. Er sah, wie die Bruhe an den staubigen Seiten des Kanisters herunterlief und im Ufersand eine Pfutze bildete, bevor sie versickerte. Tobias’ Hand zitterte so stark, da? er die Halfte verschuttete.
Mein Gott, dachte Micha, er hat Angst. Aber wovor? Vor mir? Vor was mussen wir hier Angst haben?
Er hielt die Luft an.
Micha spurte ein Beben. Dann fuhlte er formlich, wie das ganze wackelige Kartenhaus in sich zusammenfiel. O Gott!
»Alles gelogen!« sagte Micha fassungslos vor sich hin, und je langer er Tobias dabei beobachtete, wie er mechanisch und scheinbar ungeruhrt den Kanister fullte, desto sicherer wurde er, da? er mit seinem Verdacht recht hatte.
Jetzt erinnerte er sich plotzlich daran, wie Tobias erst wenige Tage vor ihrer Abreise eingefallen war, da? sie mitten im Meer ankommen wurden und deshalb unbedingt Trinkwasser brauchten. Das hatte ihn warnen mussen. Er hatte sich nicht uberreden lassen durfen. Und Claudia hatte er jetzt auch noch mit hineingezogen. So etwas Wichtiges wie Trinkwasser verga? man doch nicht, schon gar nicht, wenn man erst vor kurzem selbst in der Situation war. Es sei denn ...
Wenn Tobias bisher nie davon gesprochen hatte, da? sie auf eine Wuste treffen wurden, dann konnte das nur eines hei?en:
»Du bist uberhaupt noch nie hier gewesen, stimmt’s?«
»Phh«, machte Tobias.
»Du hast das alles zusammenphantasiert, oder? Du kennst das hier genausowenig wie wir.«
Schweigen.
Eine ungeheure fassungslose Wut begann von ihm Besitz zu ergreifen, und er pre?te seine Kiefer so fest aufeinander, da? die Muskeln schmerzten.
»Du gottverdammter Schei?kerl hast von Anfang an nur Mist erzahlt.« Er boxte ihn gegen die Schulter und erschreckte fast vor Tobias angstgeweiteten Augen, als dieser endlich den Kopf hob und ihm ins Gesicht blickte.
»Ohhh«, stohnte Micha auf. »Ich fa? es nicht. Es war alles gelogen. Du .«
Er schnellte hoch und sprang ihn an, druckte Tobias’ Schultern in den feuchten Ufersand. Sie walzten sich kurz herum und stie?en dabei den schon halbgefullten Wasserkanister um.
Micha kniete jetzt uber Tobias und schlug ihn ins Gesicht. »Schei?kerl!«
Tobias machte kaum Anstalten, sich zu wehren. Er lie? es uber sich ergehen, als hatte er darauf gewartet, versuchte nur mit den Armen sein Gesicht abzuschirmen und Michas Schlage abzufangen, die nun auf ihn einprasselten.
»Was hast du dir dabei gedacht, uns hierher zu locken, he? Du widerliche Vogelscheuche, machst du vielleicht mal den Mund auf.« Micha war au?er sich. Mit der flachen Hand schlug er zwischen den Satzen immer wieder zu. Tobias’ demonstrative Passivitat provozierte ihn noch mehr.
Plotzlich spurte er zwei kraftige Hande, die an seinen Schultern zerrten und ihn von Tobias herunterrissen. Im nachsten Augenblick landete er im Matsch.
»Hort sofort auf! Was soll denn der Mist?« Claudia stand uber ihnen, die Hande in die Huften gestemmt, und schnaubte vor Wut und Anstrengung. Pencil knurrte.
»Spinnt ihr, oder was? Seid ihr vollig ubergeschnappt?« Sie blickte rasch zwischen Micha und Tobias hin und her. »Manner!« sagte sie voll spottischer Verachtung. »Ich finde, wir haben wirklich genug Probleme, da mu?t ihr euch nicht noch gegenseitig den Schadel einschlagen. Au?erdem brauchen wir Wasser.«
Micha richtete sich auf und rieb sich die Schulter. So leid es ihm tat, aber jetzt mu?te er ihr wohl erzahlen, was los war. Es war hochste Zeit, da? sie alle zusammen Tacheles redeten. Sie hatte zweifellos recht, sie hatten wirklich Probleme, allerdings in einer Gro?enordnung, von der sie sich wohl nicht die geringste Vorstellung