Tobias nur gelacht und gesagt: »Na Gott sei Dank, da? dir das noch eingefallen ist. Ich hatte ganz schein dumm aus der Wasche geguckt.«
Der Junge war so voller Vorfreude gewesen, da? ihm nicht recht klar geworden war, in welch ungeheure Gefahr er da moglicherweise durch seine Nachlassigkeit geschliddert ware.
Und was war, wenn die beiden mit ihrem kleinen Ruderboot in ein Unwetter mit schwerer See gerieten?
Nein, er hatte unverantwortlich gehandelt, das wurde ihm jetzt klar. Nicht auszudenken, wenn ihnen etwas zusto?en wurde. Hatte er doch nur etwas fruher daruber nachgedacht. Jetzt blieb ihm nichts anderes als abzuwarten.
Manchmal war da sein fataler Hang zum Nervenkitzel, der ihn schon mehr als einmal in Teufels Kuche gebracht hatte, ohne den er aber andererseits seine eigene Reise damals gar nicht angetreten hatte. Warum mu?te er zum Beispiel diese Prachtkafer, die er aus der tertiaren Vergangenheit mitgebracht und in Kunstharz eingebettet hatte, fur jeden sichtbar auf seinen Schreibtisch stellen? Warum hing diese Aufnahme des tertiaren Urwaldes noch immer dort oben neben seinen anderen Erinnerungsfotos an der Wand?
Er liebte es einfach, sich mit Studenten, Kollegen und sonstigen Besuchern seines kleinen Instituts zu unterhalten, wahrend zwischen ihnen auf dem Schreibtisch dieser Kafer lag, ein Tier, das vor 50 Millionen Jahren gelebt hatte, und somit eine ungeheuere Provokation war fur dieses eindimensionale naturwissenschaftliche Denken, das heute vorherrschte und die Welt an den Abgrund manovrierte. Es war einfach kostlich und eine Quelle tiefster Befriedigung fur ihn, den sie schon alle abgeschrieben und als Versager und Dummkopf abgestempelt hatten. Als dieser Wissenschaftler aus Messel hier gewesen war, hatte er sich sogar dazu hinrei?en lassen, ihm eines der Tiere zu schenken, ihm, der dieselben Kafer als Millionen Jahre alte Fossilien aus seiner Schiefergrube holte. Wenn das kein gegluckter Scherz war.
Das Leben schlug schon seltsame Kapriolen. Da reiste er monatelang durch eine archaische Wildnis, kehrte ohne eine Schramme, ohne die geringste Verletzung zuruck und fiel dann zwei Jahre spater von der Leiter, als erden Apfelbaum im Garten seiner Litern zuruckschneiden wollte. Dabei zog er sich einen derart komplizierten Huftgelenkbruch zu, da? er dank der tatkraftigen Mithilfe unfahiger Arzte dieses Andenken noch heute mit sich herumschleppte.
Nun ja, was er mit sich selber anstellte, war eine Sache. Aber hier ging es um das Leben zweier junger Leute, die zu den gro?ten Hoffnungen Anla? gaben, und da hatte er sich verdammt noch mal zusammenrei?en mussen.
Tobias hatte seine Bedenken immer weggewischt. Er war genauso ein Draufganger wie er selbst, als er vor zwanzig Jahren durch die Hohle gefahren war.
Das Tertiar war kein Spielplatz. Es war ein lebensgefahrlicher Ort oder besser eine lebensgefahrliche Zeit, das hatte er Tobias immer wieder einzutrichtern versucht. Aber der Junge hatte naturlich nur gelacht und gesagt: »Bestimmt nicht gefahrlicher als die Kantstra?e zur Hauptverkehrszeit.«
Nein, nachdem Tobias von dem Geheimnis erfahren hatte, gab es fur ihn kein Zuruck mehr, und er, Sonnenberg, hatte von Anfang an gewu?t, da? es so sein wurde. Die Aussicht, diese untergegangene Welt mit eigenen Augen erleben zu konnen, war fur einen jungen Mann wie Tobias einfach unwiderstehlich. Dagegen kam er mit seinen angstlichen Altmannerbedenken nicht mehr an. War man erst einmal infiziert von diesem Gedanken, lie? er einen nicht mehr in Ruhe.
Zuerst hatte er sich vehement dagegen gestraubt, da? Tobias einen Freund mitnehmen wollte, noch dazu einen, den er gar nicht kannte. »Alleine fahr ich nicht«, hatte Tobias kategorisch gesagt.
Sonnenberg hatte nur noch daran gedacht, da? nun auch fur ihn die lange Zeit der Untatigkeit endlich zu linde sein wurde. Seit damals, seit seiner eigenen Reise in die Vergangenheit, hatte er nichts mehr publiziert, keine einzige Zeile mehr geschrieben. Wie sollte er auch? Er hatte die Welt des Eozan erlebt, am eigenen Leibe erfahren und gefuhlt. Und da sollte er weiter diese lacherliche Forschung an ebenso lacherlichen Fossilienresten betreiben? Es ging nicht mehr. Er konnte nicht einfach so tun, als ob seine Reise nie stattgefunden hatte.
Was die Palaontologie da notgedrungen betrieb, war wirklich ein hoffnungsloses Unterfangen, von geradezu ruhrender Hilflosigkeit gepragt. Wie sollte jemand etwa
Aber er wu?te, da? es so war, denn er hatte das Ganze gesehen. Auch uber diese Gefahr hatte er Tobias nicht im unklaren gelassen. Er sei danach fur die Palaontologie verloren, hatte er ihm gesagt, werde moglicherweise nie wieder mit derselben Begeisterung wie jetzt seinen Studien nachgehen konnen. Und was hatte der Bengel geantwortet? »Besser die Wahrheit kennen, als ewig wie ein Blinder im Dunkeln herumstochern«, hatte er gesagt und naturlich recht damit.
Deswegen mu?te man ja mit dieser ungeheuren Moglichkeit so sorgsam umgehen. Prof. Hegerova, die ihm von der Hohle erzahlt hatte, hatte damals gesagt, diese Information sei so gefahrlich wie das Wissen um die Kernspaltung. Er durfe sie unter keinen Umstanden weiterleben, und wenn doch, dann nur an absolut zuverlassige Menschen, denen er ohne Bedenken sein eigenes Leben anvertrauen wurde. Sonnenberg hatte sich fast drei Jahrzehnte daran gehalten, aber es war ihm mit den Jahren immer schwerer gefallen. Nur zwei Menschen hatte er davon erzahlt, Ernst Herzog, dem beruhmten Dinosaurierforscher und langjahrigen guten Freund, der nach dem tragischen Tod seiner Frau spurlos verschwand. Wahrscheinlich hatte er Selbstmord begangen. Und jetzt Tobias.
Nun gab es noch einen Mitwisser, Tobias’ Freund, diesen Michael. Tobias versicherte ihm immer wieder, da? er fur ihn die Hand ins Feuer legen wurde, da? es keinen Besseren gabe, und schlie?lich hatte er klein beigegeben. Als Tobias ihn darum bat, hatte er ihm sogar einige Fotos, einen der Prachtkafer und das Herbarblatt gegeben, damit er seinen Freund auf diese Weise uberzeugen konnte. Hoffentlich hatte er keinen schweren Fehler gemacht Tobias sollte ihm Proben aus der Vergangenheit mitbringen, Material, mit dem er endlich seine seit vielen Jahren unterbrochene Forschungsarbeit wiederaufnehmen konnte. Auch wenn niemand davon erfahren durfte, war das immer noch besser, als noch langer in dieser erzwungenen Untatigkeit zu leben. Naturlich hatte er seine Lehraufga-ben, und die erfullte er, so gut er konnte, aber es war unendlich demutigend mitzuerleben, wie er mehr und mehr in der Vergessenheit versank. Wer nicht publizierte, existierte nicht, so war es nun einmal in der Wissenschaft.
»Was, der lebt noch?« hatte er einmal aus dem Munde eines Kollegen horen mussen, als dieser sich bei irgendeiner Gelegenheit mit Ellen, seiner Assistentin, unterhielt. Sie erzahlte ihm gerade, da? sie beim alten Sonnenberg promovierte, und die beiden hatten ihn offensichtlich nicht bemerkt. Das tat weh. Und vor ein paar Jahren, als er sich das letzte Mal auf eine der Fachtagungen gewagt hatte, starrten ihn seine Kollegen an, als sei er ein lebendes Fossil, ein Untoter, der jungst dem Grabe entstiegen war und nun wieder in den alten Kreisen herumgeisterte.
Wenn er wenigstens neues Forschungsmaterial hatte. Das wurde ihm uber diese verletzende, zutiefst demutigende Nichtexistenz innerhalb seiner Kollegenschaft hinweghelfen. Das hoffte er jedenfalls. Deshalb war er schwach geworden.
Aber war Tobias wirklich der Richtige? Hatte denn damals die alte Hegerova die richtige Wahl getroffen? In letzter Zeit bekam er da manchmal seine Zweifel.
Tobias war vor etwa einem Jahr aufgetaucht. Er spruhte vor Energie und Wissensdurst, versaumte keine seiner Lehrveranstaltungen und wurde bald zu einem vertrauten Anblick in den Gangen und Raumlichkeiten des Institutes. Sonnenberg begann sich schon Sorgen zu machen, ermahnte ihn, da? er gerade jetzt in der Anfangsphase seines Studiums die anderen geologischen Disziplinen nicht vernachlassigen durfte, aber Tobias lie? sich nicht beeindrucken. Der Junge war besessen von der Vergangenheit, und das imponierte ihm.
Heutzutage gab es kaum noch Studenten, die sich ernsthaft fur die Palaontologie interessierten. Die meisten stromten in die modernen biologischen Modefacher, die Physiologie, die Okologie und besonders in die Genetik, seit sich andeutete, da? man als Biologe dort erstmals gutes Geld verdienen konnte. Oder sie wollten als Geologen nach Erdol, Gold und Diamanten suchen. Und sogar im letzten Jahr, als seine Seminare und Vorlesungen im Zuge der Dinosaurierwelle plotzlich aus allen Nahten platzten, brockelte das Interesse schnell wieder ab, als die