Studenten mitbekamen, welch muhsames Tagewerk die Palaontologie fur sie bereithielt, da? es unter Umstanden Wochen dauern konnte, nur einen einzigen Knochen aus dem Gestein zu losen und da? die dann muhselig rekonstruierten Skelette nicht brullend und stampfend und voller Leben durch die Gegend marschierten.

Tobias war anders. Er konnte sich tagelang genauestens mit einem einzigen Fundstuck befassen. Seine Geduld, die wichtigste Eigenschaft, die ein Palaontologe mitbringen mu?te, schien unerme?lich, und Sonnenberg verfolgte seine Entwicklung mit immer gro?erer Sympathie und Aufmerksamkeit.

Irgendwann, es mu?te etwa im Spatsommer letzten Jahres gewesen sein, erzahlte er Tobias dann von der Hohle und dem Geheimnis, das sie verbarg. Es war ein schwieriges Stuck Arbeit, aber er hatte sich genau uberlegt, wie er vorgehen wurde. Vorausgegangen waren Tage und Wochen, in denen er sich immer wieder gefragt hatte, ob Tobias endlich derjenige war, nach dem er so lange gesucht hatte. Er war ungeduldig geworden, hatte Angst, da? der Richtige vielleicht nie mehr auftauchen konnte, wenn er weiterhin so hohe Ma?stabe anlegte. Alles ware sowieso ganz anders gekommen, wenn nicht in demselben Ma?e, indem Tobias sein Vertrauen gewann, das in seine Assistentin Ellen immer tieferer Ernuchterung wich.

Denn eigentlich hatte sie es sein sollen, die er einweihen wollte, sonst hatte er ihr nie die Assistentenstelle verschafft. Aber Ellen hatte ihn enttauscht. Das in sie gesetzte Vertrauen erwies sich als eine einzige niederschmetternde Fehlinvestition. Es war noch nicht allzuviel Zeit vergangen, seit er sich zu einer so deutlichen und ungeschminkten Einschatzung der Lage durchgerungen hatte.

Ellen, seine schone Ellen, wie hatte er sich nur so in ihr tauschen konnen? Naturlich hatte er sich damals, als seine Wahl fur die frei werdende Assistentenstelle auf sie fiel, auch gefragt, welche Rolle dabei ihr Au?eres spielte. Sie war wirklich ein Traum von einem Madchen. Auch wenn er auf die dreiundsechzig zusteuerte und ein lahmes Bein hatte, so war er doch kein Neutrum, den das vollig kalt lie?. Der Mann gleich welchen Alters, den Ellen nicht in helle Aufregung versetzt hatte, mu?te noch geboren werden. Sie verstand es ja auch, ihre Wirkung auf Manner geschickt einzusetzen. Aber ausschlaggebend waren ihre fachlichen Qualitaten gewesen, ihr Diplom in Botanik, ihr scharfer Verstand, ihr ungeheurer Ehrgeiz, soweit hatte er sich schon unter Kontrolle gehabt.

Am Anfang lief alles recht erfreulich. Sie begann mit gro?em Eifer an ihrer Promotion uber die eigenartigen Blutenstrukturen einiger fossiler Pflanzenfamilien zu arbeiten. Sie wollte versuchen, daraus Ruckschlusse auf deren Bestaubungsbiologie abzuleiten. Sonnenberg stand ihr zwar fur Fragen zur Verfugung, hielt sich aber eher zuruck. Er hatte ja mit eigenen Augen beobachtet, wie es funktionierte, hatte einsam unter seiner Plastikplane im Regen des eozanen Urwaldes gehockt und gesehen, da? es Fledermause waren, welche die Pollen aus den seltsam geformten Staubgefa?en unfreiwillig von Blute zu Blute transportierten. Aber das durfte er ihr naturlich nicht sagen. Seine Situation war deshalb nicht einfach.

Wenn alles optimal verlaufen ware, hatte er ihr irgendwann bei einer gemutlichen Tasse Kaffee von der Hohle erzahlt, und sie hatte es sich selbst ansehen konnen. Er hatte sich alles so schon vorgestellt - sie pflegten damals einen freundschaftlichen Umgangston, gingen hin und wieder sogar zusammen essen, und er geno? die erstaunten Blicke der anderen Gaste, neidisch bis emport, wenn er mit Ellen ein Restaurant betrat und sie sofort alle Augenpaare auf sich zogen.

Aber es lief eben alles andere als optimal. Irgendwann merkte er, da? sie immer verschlossener wurde, sich Schritt fur Schritt von ihm zuruckzog, schlie?lich sogar schnippisch und aggressiv wurde, wenn er sie ansprach oder sie sich in dem kleinen Institut uber den Weg liefen. Er zermarterte sich das Gehirn, ob er irgendeinen Fehler gemacht, irgendein falsches Wort fallengelassen hatte, da? sie so reagierte und ihm aus dem Weg ging. Uber ihre Arbeit, uber die sie vorher so angeregt diskutiert hatten, schwieg sie sich zunehmend aus. Mitunter blieb sie tagelang verschwunden, ohne ein Wort zu sagen. Lange redete er sich ein, das Ganze werde schon vorubergehen, junge Frauen wie Ellen seien eben wankelmutige sensible Geschopfe. Ihre Stimmungsschwankungen seien, ohne da? sie etwas dafur konnten, enormen Amplituden unterworfen, denen er alter Knacker nicht mehr zu folgen vermochte. Vielleicht hatte sie Liebeskummer oder irgendwelche anderen Probleme, uber die sie nicht reden wollte.

Als dann Tobias auftauchte und die beiden sich bald naherzukommen schienen, schopfte er noch einmal neue Hoffnung, dachte, da? sich alles wieder einrenken werde. Er traumte kurzzeitig sogar von einer kleinen dynamischen Arbeitsgruppe, etwas, das aufzubauen ihm nie zuvor nie gelungen war. Aber alles wurde nur noch schlimmer. Heute sprachen Ellen und Tobias kaum miteinander. Er wu?te bis heute nicht, was zwischen den beiden vorgefallen war, und wurde es wohl auch nie erfahren.

Er seufzte. Das Assistenten-Professoren-Verhaltnis war eben eine besonders heikle Angelegenheit. Unter den Fittichen ihrer akademischen Ziehvater und -mutter spielte sich eine Art zweiter Pubertat ab, ein komplizierter, emotional aufwuhlender Emanzipationsproze?, der wie die Loslosung vom Elternhaus zu dramatischen Erschutterungen und Turbulenzen fuhren konnte, auch und gerade bei Frauen, deren Kampf um Anerkennung im patriarchalischen Wissenschaftsbetrieb besonders hart war. Nicht selten wuchsen die jungen Forscher und Forscherinnen ihren Betreuern uber den Kopf, wenn sie sich mit jugendlichem Elan auf ihr neues Arbeitsgebiet sturzten, und es bedurfte auf Seiten der etablierten Wissenschaftler schon eines au?erordentlichen Einfuhlungsvermogens und einer gewissen menschlichen Gro?e, wenn sie diesen schwierigen Proze? begleiten und fordern sollten, ohne ihn zu storen oder zu behindern.

Im Falle von Ellen war ihm das grundlich mi?lungen. Er mu?te sich damit abfinden und nach vorne schauen. Jetzt gab es Tobias. Ein gutes Jahr noch, dann lief Ellens Stelle aus, und er hatte ein Problem weniger am Hals. Schade, da? Tobias erst am Anfang seines Studiums stand und daher noch nicht ihren Platz einnehmen konnte.

In Gedanken versunken spielte Sonnenberg mit einem Kugelschreiber herum, malte abstrakte Figuren auf ein Blatt Papier, Linien, die aussahen wie mystische esoterische Zeichen.

Hatte er Tobias eigentlich von dem Wasserfall erzahlt, den Stromschnellen, die sie an Land umgehen mu?ten, um in die Savanne und den Dschungel zu gelangen? In seiner Erinnerung hatte es nur noch diesen Dschungel und die Savanne gegeben, weil er sich damals nur dort langer aufgehalten hatte. Alles andere, die gesamte Anreise, war im Laufe der Jahre zu einem undeutlichen Wirrwarr von Eindrucken verschwommen. Und da er auf Anraten der Hegerova keine detaillierten Wegbeschreibungen festgehalten hatte, halfen auch seine Aufzeichnungen nicht weiter. Wenn sie sich doch nur bis zum Sommer Zeit gelassen hatten, dann hatte er vielleicht ...

Herr im Himmel, wenn dem Jungen etwas zustie?, wurde er sich das nie verzeihen. Noch so ein Ruckschlag ware zuviel, das konnte er nicht mehr verkraften.

King und Kong

»O Gott!« stohnte Micha, ri? die Augen auf, soweit es ging, und rieb sich mit beiden Handen uber das schwei?bedeckte Gesicht. Es war noch fruh am Morgen. Er hatte getraumt. Er richtete sich auf und starrte auf King und Kong. Wenige Kilometer entfernt ragten sie ungeruhrt in den Himmel. Ihre Gipfel wurden schon von der Morgensonne angestrahlt. Warum mu?te er bei ihrem Anblick immer an Wachturme denken?

Seitdem Tobias ihnen alles gestanden hatte, traumte er jede Nacht haarstraubenden Unsinn zusammen. Mal verirrte er sich in der endlosen glei?enden Helligkeit irgendeiner Eiswuste, mal sturzte er in Fallgruben urzeitlicher Jager, wurde um ein Haar von wutenden Mammuts zertrampelt oder von hyperrealistischen Velociraptoren verfolgt, wie die Helden in diesem Dinosaurierfilm. Seitdem es fur ihn keine Gewi?heiten mehr gab, was diese Reise anging, spielte seine Phantasie verruckt, reimte sich im Traum irgendwelche Abenteuer zusammen, die in der Realitat weiterhin hartnackig ausblieben. Noch immer gab es nichts als den steingrauen Flu?, als Sand und Felsen, diese allerdings in erstaunlicher Vielfalt.

Den schlimmsten, weil hinterhaltigsten aller Alptraume hatte er in der vergangenen Nacht gehabt. Er sa? allein an einem Seeufer, hinter ihm ein dichter Kiefernwald. Es wurde rasch dunkel, und bald war um ihn herum nur mondlose Finsternis. Er fuhlte sich ganz entspannt, glaubte, er sa?e irgendwo am Ufer eines heimatlichen markischen Sees, als plotzlich durch die Baumkronen des gegenuberliegenden Seeufers ein schwacher Lichtschimmer zu sehen war, der rasch heller wurde. Wenige Minuten spater schob sich eine blendend helle, riesige Mondscheibe uber den Rand der Welt und raste bedrohlich schnell uber den Himmel. Sie war viel gro?er als normal. Ein Zittern wanderte uber den Erdboden. Die Baumkronen rauschten in einem plotzlichen Windsto?. Micha hatte vor Angst geschrien, sowohl im Traum als auch in der Realitat. Tobias hatte ihnen am Vorabend allerhand Erstaunliches uber den guten alten Mond erzahlt, zum Beispiel, da? er im Erdaltertum vermutlich nur halb soweit von der Erde entfernt war wie heute und seine entsprechend gro?ere Scheibe wohl auch viel schneller gewandert sei. Michas Gehirn griff dankbar nach solchen Bildern, um ihn spater im Traum damit zu traktieren, um ihn mal hier-, mal dorthin zu versetzen und in irgendwelche meist katastrophal verlaufenden Abenteuer zu

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