machte.

»Frag ihn!« Er wies mit dem Kopf auf Tobias, der sich nun ebenfalls aufgerichtet hatte und auf den Ellenbogen stutzte. Er wischte sich mit dem Handrucken uber das Gesicht und verschmierte dabei einen Blutstropfen, der aus seiner Nase lief.

»Ach, lieber nicht«, sagte Micha und machte eine abfallige Handbewegung. »Falls du es noch nicht wei?t, der Kerl lugt, sobald er seinen ha?lichen Mund aufmacht. Da hilft auch kein Diamant.«

»Is gut, Micha!« Tobias war aufgestanden. Er wischte sich den Dreck von den Beinen. »Du hast es jetzt wirklich oft genug gesagt.«

Claudia schuttelte verstandnislos den Kopf. »Konnt ihr mir vielleicht mal erklaren .«

»Er ist noch nie hier gewesen«, sagte Micha und warf Tobias einen ha?erfullten Blick zu.

»Wie?«

»Na, alles erstunken und erlogen. Er wei? genausowenig wie wir, wo wir sind und wann und . na ja, was das hier alles zu bedeuten hat.«

Claudias Augen wurden immer gro?er. »Du meinst ...?« Sie sah entsetzt zu Tobias hinuber.

»Ganz so schlimm ist es nicht«, sagte Tobias. »Aber im Prinzip hat er schon recht.«

»Na, wunderbar, welche Offenherzigkeit!« Micha schuttelte fassungslos den Kopf und versuchte, einigerma?en Ordnung in die auf ihn einsturmenden Gedanken zu bringen. Wenn Tobias noch nie hier gewesen war, woher stammten dann die Mitbringsel, und wie hatte er uberhaupt von dieser verdammten Hohle erfahren? Vielleicht war das mit dem Heimweg auch nicht so einfach, wie Tobias behauptet hatte. Von wegen nach Osten. Au?erdem ...

»Aber wenn Tobias vorher noch nie hier war«, kam ihm Claudia zuvor. »Wer dann? Irgend jemand mu? diese Seerose doch gefunden haben.«

Micha spurte, wie er wieder wutend wurde und die Aggressionen in ihm hochstiegen. Sein Hiersein kam ihm mit einem Schlage so absurd vor, auch die jetzt zwischen King und Kong, den beiden Felsturmen, untergehende Sonne sah so unwirklich aus, da? er meinte, kurzfristig den Verstand zu verlieren. Er hatte dieses Ratselraten satt, ein fur allemal und endgultig satt. Er wurde sich das keine Sekunde langer mehr anhoren.

»Tobias!« sagte er betont ruhig, hob drohend den Finger und kam sich dabei irgendwie albern vor. Aber es war nur ungewohnt. Er meinte es ernst. »Wenn du uns nicht sofort diese ganze beschissene Geschichte erzahlst, ich meine wirklich die ganze Geschichte, dann Gnade dir Gott. Ich habe noch nie jemanden krankenhausreif geschlagen, aber im Augenblick verspure ich eine geradezu unwiderstehliche Lust dazu. Kannst du mir folgen?«

Tobias nickte. Dann verzog sich sein dreck- und blutverschmiertes Gesicht zu einem diamantenverzierten Grinsen. »Okay, okay! Ich erzahl’s euch. Alles. Ich versprech’s. Setzen wir uns oben auf die Matten?« Hinter ihm verschwand der rotgluhende Rand der Sonne hinter den Bergen.

Dr. Di Censo

Als Axt an diesem schonen Vorfruhlingstag in die Station kam - es war Anfang Marz, und uberall schauten schon die ersten Krokusse aus dem Boden -, wu?te er noch nicht, da? dieser Tag fur ihn eine entscheidende Wende herbeifuhren sollte.

Es ging ihm deutlich besser. Er hatte die Nachwirkungen seines kleinen Malheurs gut uberstanden, und vor allem die Tatsache, da? er gegenuber der Person, die ihm am meisten bedeutete, nicht mehr lugen mu?te, lie? ihn sehr viel gefa?ter, nuchterner und entschlossener in die Zukunft blicken. Voller Dankbarkeit dachte er an Marlis und den Sonntag nachmittag zuruck. Wie hatte er nur so dumm sein konnen, ihr von alldem nichts zu erzahlen? Bis in die Nacht hinein hatte sie sich die Geschichte angehort. Irgendwann waren ihr die Augen vor Mudigkeit zugefallen.

»Du mu?t etwas unternehmen, Helmut«, hatte sie gesagt. »Du darfst dich nicht so passiv verhalten.« Er war nicht sicher, ob sie ihm wirklich glaubte, aber sie hatte ihm die Panik genommen, dieses unertragliche Gefuhl, nur hilfloses, ohnmachtiges Opfer zu sein.

Festen Schrittes lief er durch die beengten Raumlichkeiten der Station, gru?te Sabine und die anderen und steuerte in seinem Arbeitszimmer wie jeden Morgen sofort auf die Kaffeemaschine zu.

Naturlich anderte das alles nichts daran, da? dieses Skelett existierte. Eingeschlossen in seinem Schiefersarg lag es da unten in dem feuchten, kuhlen Kellerraum inmitten der anderen Fossilien und zeigte ihm mit knochigen toten Fingern eine lange Nase. Der einzige Unterschied war, da? er sich nun nicht mehr ganz so allein damit fuhlte.

Er hatte sich an den Schreibtisch gesetzt und etwa zwei Stunden konzentriert gearbeitet, als ein karmesinroter Ferrari auf dem Stationsgelande hielt und in einem grandiosen und unubersehbaren Auftritt das Schicksal in Gestalt von Dr. Emilio Francesco Di Censo das Haus betrat.

Schmaler hatte die Angewohnheit, die zahlreichen Gaste aus aller Welt, die ihn und das Frankfurter Senckenberg-Museum besuchten, hinaus nach Messel zu schicken, sobald sie ihm lastig wurden. »Waren Sie denn schon in der Grube drau?en?« pflegte er in solchen Situationen zu fragen, und wenn seine Gaste bedauernd mit dem Kopf schuttelten, setzte er einen Ausdruck grenzenlosen Erstaunens und tiefsten Mitgefuhls auf, schob die Besucher sanft, aber bestimmt aus seinem Buro und sagte: »Na, das mussen Sie unbedingt nachholen. Am besten, Sie fahren gleich raus. Es ist nicht weit. Es ware doch ein Jammer, wenn Sie sich das entgehen lie?en. Ich werde sofort anrufen und Ihren Besuch ankundigen. Unser Leiter dort, Dr. Axt, wird fur Sie sicher ein hubsches kleines Fossil finden, das Sie als Andenken mit nach Hause nehmen konnen. Mich mussen Sie bitte entschuldigen. Die Pflicht ruft, Sie verstehen.«

In der Regel funktionierte diese Methode ganz hervorragend, denn die meisten Besucher des Museums wunschten sich nichts sehnlicher, als die beruhmte Grube Messel besichtigen zu durfen, von der man nicht wu?te, ob sie in wenigen Jahren nicht vielleicht unter Tonnen von Babywindeln, Kartoffelschalen und Zahnpastatuben verschuttet sein wurde. Und die Aussicht auf ein eigenes Fossil lie? ihre Augen leuchten, auch wenn das Ding - was viele nicht wu?ten - nach wenigen Stunden zu kleinen braunen Schieferschnipseln zerfallen wurde. Schmalers Anruf in der Station blieb meistens aus, und so standen die Gaste dann plotzlich in der Tur, platzten unan- gekundigt in die alltagliche Arbeit hinein und tanzelten verlegen von einem Bein aufs andere, wenn sie merkten, da? sie gar nicht erwartet wurden.

So ahnlich mu?te auch Di Censo hergefunden haben, aber sein Auftritt konnte sich sehen lassen. Im schweren Kamelhaarmantel, einen wei?en Seidenschal lassig um den Hals geschlungen und auf dem machtigen Schadel einen schwarzen breitkrempigen Hut fegte er durch die Tur wie ein hei?er Wustenwind, blieb kurz stehen, um sich zu orientieren, und als er Axt durch die offene Tur des Arbeitszimmers an seinem Schreibtisch erspaht hatte, breitete er seine kraftigen Arme aus wie ein Opernsanger, der sich anschickte, seiner Angebeteten das zweigestrichene C entgegenzuschleudern.

»Dottore, carissimo«, schallte es durch das ganze Haus, und wahrend Axt der Stift aus der Hand fiel, heulte Lehmkes Sandstrahlgeblase laut auf, und Sabine vergo? den Inhalt ihrer Kaffeetasse uber die Holzplatte ihres Arbeitstisches.

»Dr. Di Censo«, entfuhr es Axt nach einem kurzen Moment des Schocks. Dann stand er auf, lief auf den unverhofften Gast zu und lie? sich von diesem an den Kamelhaarmantel drucken. Verstarkt durch den Resonanzkorper eines enormen Brustkorbs schien Di Censos Lachen die Luft des ganzen Gebaudes in Schwingung zu versetzen.

»Hahaha! Wie geht es Ihnen, Dottore? Was macht Ihre entzuckende Frau, mia bella fiamma?«

»Gut ...«, sagte Axt und wollte, nachdem er sich aus Di Cen-sos Umarmung befreit hatte, zu langeren Erklarungen ansetzen. Ganz benommen von soviel Herzlichkeit, fuhr er sich durch die in Unordnung geratenen Haare und strich seinen verrutschten Pullover wieder glatt.

»Auch Ihnen geht es gut wie immer, was?« fragte er und nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie Sabine den verschutteten Kaffee aufwischte und sich mit dem Finger an die Stirn tippte. Lehmke arbeitete schon wieder an seinem Praparat, als ware nichts geschehen.

»Benissimo, caro, benissimo«, bestatigte Di Censo und klopfte Axt donnernd auf die Schulter.

Die beiden kannten sich, wenn auch bei weitem nicht so gut, wie das ausgedehnte Begru?ungszeremoniell vermuten lie?. Sie hatten sich bei verschiedenen Tagungen im Ausland getroffen. Anla?lich eines Meetings in Rom hatte Di Censo auch Marlis kennengelernt und sich von ihren roten Haaren derart hingerissen gezeigt, da? er sie fortan nur noch mia bella fiamma, meine schone Flamme, nannte und es bei ihren seltenen Treffen nie versaumte, sich nach ihr zu erkundigen.

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