»Sie sind umgekippt«, keuchte Max. »Wir haben es von unten gesehen und sind gleich hochgerannt.«
»Tsss«, machte Axt und schuttelte benommen seinen Schadel. Er war noch immer vollig desorientiert.
Nur langsam und zogernd erinnerte er sich, was passiert war. Er hatte wieder dieses seltsame Gefuhl gehabt, nur starker als sonst, viel starker. Alles hatte so real gewirkt, geradezu beangstigend, als ob er mitten im urzeitlichen Dschungel gestanden hatte. Was war das fur Zeug da an seinen Schuhen?
Ihm fiel das Krokodil ein. Ganz deutlich hatte er es gesehen, lauernd hatte es zwischen den Seerosen gelegen. Es war ein besonders gro?es Tier gewesen, vielleicht so gro? wie das, was dahinten am Grubenrand noch im Schiefer lag. Wir mussen es bald herausholen, dachte er. Wir durfen nicht warten ...
»Er wird schon wieder ganz bla?. Wir sollten ihn so schnell wie moglich nach oben in die Station bringen. Was meinst du, Rudi?« Max schaute zu seinem Kollegen, der aber noch viel zu heftig nach Luft schnappte, um ihm antworten zu konnen, und nur mit dem Kopf nickte.
Er wandte sich wieder Axt zu. »Konnen Sie aufstehen?«
»Ja, naturlich«, sagte er selbstsicher, aber es gelang ihm auch mit Hilfe der beiden Grubenarbeiter nur muhsam, sich aufzurichten. Nach ein paar Minuten lie? das Kribbeln in seinen Beinen nach, und sie konnten sich langsam in Bewegung setzen.
»Sie sollten zum Arzt gehen«, sagte Max, der sich den rechten Arm seines Vorgesetzten um die Schulter gelegt hatte. »Mit so was ist nicht zu spa?en.«
»Hm«, erwiderte Axt, aber er hatte gar nicht richtig zugehort. Er stand noch ganz unter dem Eindruck dessen, was er gesehen hatte oder sich eingebildet hatte zu sehen.
Von Max und Rudi flankiert, erreichte Axt schlie?lich nach einer halben Stunde den Eingang der Senckenberg-Station. In Windeseile hatte sich unter der Belegschaft herumgesprochen, da? er auf dem Weg in die Grube zusammengebrochen war.
Seine Beteuerungen, ihm gehe es wieder gut und alles sei in Ordnung, nutzten nichts, im Gegenteil. Alle wuselten aufgeregt um ihn herum, pre?ten ihn in seinen Stuhl und raumten die Schreibtischplatte frei, damit er seine Fu?e hochlegen konnte. Dann flo?ten sie ihm hei?en Tee ein, setzten ihn schlie?lich in ein Taxi und rangen ihm das Versprechen ab, sich zu Hause sofort ins Bett zu legen. Er solle ja nicht wagen, sich hier in dieser Woche noch einmal blicken zu lassen, sondern sich endlich einmal richtig ausruhen. Er habe in letzter Zeit ausgesprochen nervos und uberarbeitet gewirkt. Sabine wollte Schmaler in Frankfurt anrufen und ihm sagen, da? Axt krank war.
»Aber sag ihm nicht, da? ich zusammengebrochen bin«, flehte er sie an. »Er macht sich sonst unnotige Sorgen.«
»Ich mach das schon, Helmut. Denk du jetzt mal an dich.« Sie streichelte ihm uber den Kopf.
Meine Gute, dachte er. Sie meinten es ja sicher gut, aber solch geballtes Mitgefuhl, derart massive Hilfsbereitschaft konnte einem wirklich auf die Nerven gehen. Sie taten so, als sei er todkrank. Es war nur eine kleine, vorubergehende Unpa?lichkeit, nichts weiter. So etwas konnte doch jedem passieren.
Zu Hause legte er sich aber dann doch sofort ins Bett. Im Nu war er eingeschlafen.
Drei Tage spater sa? er allein am Kuchentisch, grubelte vor sich hin und spie?te mit der Gabel die Reste seines Ruhreis vom Teller. Marlis war nicht zu Hause. Sie war uber das Wochenende mit Stefan zu ihrer Freundin Monika nach Frankfurt gefahren und wurde erst am Nachmittag zuruckkommen. Naturlich hatte sie ihn nur unter gro?ten Bedenken alleine gelassen, aber da er sowieso nur schlafen wollte, hatte er auf diese Weise seine Ruhe. Ihm fehlte ja nichts Ernstes, das hatte auch der Arzt gesagt. Ein Schwacheanfall, nichts weiter. Den gestrigen Tag hatte er im Bett verbracht, zweimal kurz mit Marlis telefoniert. Er fuhlte sich matt und kraftlos.
So etwas war ihm noch nie passiert. Er war einfach vollig uberarbeitet. Seit drei Jahren hatte er keinen richtigen Urlaub gemacht, nur diese zwei Wochen in Danemark letzten Sommer. Statt dessen hatte er Nacht fur Nacht uber seinen Papieren gesessen, Berichte abgefa?t und Fachliteratur studiert. Und dann diese Geschichte mit dem Skelett. Das war einfach zuviel des Guten. Marlis hatte es ihm prophezeit. Er fuhlte sich fur alles und jedes verantwortlich und war unfahig, Arbeiten zu delegieren. Jetzt hatte er das Ergebnis.
Der Sonntag vormittag zog sich endlos in die Lange. Bald wunschte Axt , Marlis und Stefan waren hier und konnten ihn auf andere Gedanken bringen. Er versuchte Schmaler, den
Er uberlegte kurz, ob er einen Spaziergang machen sollte. Er war schon seit Tagen nicht mehr vor der Tur gewesen. Ein Blick aus dem Kuchenfenster lie? ihn davon Abstand nehmen. Drau?en regnete es Bindfaden.
Ratlos lief er durch die Zimmer ihres Hauses, bahnte sich durch herumliegendes Spielzeug und Dinosaurierfiguren einen Weg in das Kinderzimmer und versuchte sich eine Weile an einem von Stefans Gameboys. Aber er schaffte es einfach nicht, auch nur das erste der Monster zu uberwinden. Au?erdem bekam er von dem ununterbrochenen Gepiepe Kopfschmerzen.
Er blatterte wahllos in verschiedenen Buchern herum, las hier eine Seite, betrachtete dort eine Abbildung. Ihm fiel das Werk von Ernst Herzog in die Hande, einer der beruhmtesten Dinosaurierkenner Deutschlands. Im Zuge des aufkochenden Saurierfiebers hatte man sich des Klassikers erinnert und vor kurzem eine modernisierte, reich illustrierte Neuausgabe herausgebracht. Obwohl er im Augenblick auf Dinosaurier nicht gut zu sprechen war, hatte er nicht widerstehen konnen und das Buch gekauft, aber aus Zeitmangel bisher kaum hineingeschaut. Im Vorwort der Neuausgabe las er vom ratselhaften und bis heute nicht aufgeklarten Verschwinden Herzogs, von einer Familientragodie, die den gro?en Gelehrten moglicherweise aus der Bahn geworfen und ihn zu einer tragischen, allerdings nie nachgewiesenen Verzweiflungstat getrieben hatte. Seltsam, dachte Axt, da? Menschen heutzutage einfach so verschwinden konnen. Er blatterte noch etwas in dem Buch herum und legte es dann mit einem gelangweilten Seufzer aus der Hand.
Schlie?lich landete er vor dem Fernseher. Er schaltete durch die Programme, schaute sich ein paar Ballwechsel eines Tennisspiels an, verfolgte einige grelle Musikvideos und blieb bei einer blonden Fernsehansagerin hangen, die den Beginn eines Spielfilms ankundigte.
Wunderbar, dachte Axt, so ein richtiger Sonntagnachmittagsschinken, das ist jetzt genau das richtige, je dummer, desto besser. Ohne daruber nachzudenken, ging er an den Wohnzimmerschrank, griff nach einer vollen Flasche Malt Whisky, lie? sich in den gro?en Sessel fallen und starrte auf die flak-kernde Mattscheibe.
Halb amusiert, halb gelangweilt und zwischendurch immer wieder sein Glas fullend, verfolgte er, wie vier Jungs in ein Ruderboot stiegen, eine gro?e Hohle passierten und sich dann durch dichtes Packeis kampfen mu?ten. Er fand den Film nur ma?ig, aber als er das Mammut mit seinen unbeholfenen stereotypen Bewegungen sah, das die Jungs bei der Einfahrt in eine Flu?mundung mit erhobenem Russel wie ein Empfangskomitee begru?te, als er die gemalten Hintergrundkulissen sah und die Pappmacheaufbauten der dargestellten eiszeitlichen Landschaft, mu?te er lauthals lachen, und aus seinen Augenwinkeln losten sich einige Tranen.
Als Marlis kurz vor vier nach Hause kam und ins Wohnzimmer trat, bot sich ihr ein seltsamer Anblick. Zuerst sah sie die halbgeleerte Whiskyflasche auf dem Tisch und wollte schon aus der Haut fahren, aber dann blickte sie in das Gesicht ihres Mannes und hielt erschreckt inne. Auf dem Fernsehschirm sturzten sich gerade zwei laut brullende Dinosaurierpuppen aufeinander und davor, auf dem Fu?boden, hockte ihr Mann mit geroteten Augen und feuchten Wangen und sah sie mit einem derart mitleiderregenden und jammervollen Gesichtsausdruck an, da? sie die gro?e Tasche mit Stefans Spielsachen einfach fallen lie?, sich neben Axt auf den Teppich hockte und ihn in den Arm nahm.
»Helmut, was ist denn los?« brachte sie nur heraus, bevor er sie umklammerte wie ein Ertrinkender seinen Retter und an ihrer Schulter in lautes, seinen ganzen Korper erschutterndes Schluchzen ausbrach.
»Um Gottes willen, Helmut, was ist passiert? Ist jemand gestorben?« Alle moglichen Katastrophen geisterten ihr durch den Kopf: Job verloren, Krebs, multiple und andere Sklerosen
»Vielleicht ist eine Zeitreise die Losung«, nuschelte er und sah sie mit verheultem Gesicht an. »Das ware doch wirklich eine verdammt gute Erklarung, findest du nicht?«
»Tut mir leid, ich verstehe kein Wort. Meinst du den Film da?« Sie zeigte auf den Fernseher. Das unterlegene der beiden Trickmonster schleppte sich muhsam weg, bis es schlie?lich von trauriger Musik untermalt regungslos liegenblieb. Es war ein