Hohenunterschiede schlie?lich wieder verschwinden lassen. Heute gibt es nur noch klagliche Erinnerungen an die Dimensionen, die dort fruher einmal zu sehen waren. Auch Gebirge werden geboren und sterben.

Sie stritten daruber, ob menschliche Bewohner in der damaligen Zeit wohl gewu?t hatten, welche umwalzenden Veranderungen die Oberflachengestalt der Erde gerade durchmachte, ob sie etwas davon gemerkt hatten, da? ganze Kontinente kollidierten, da? sich unvorstellbare Massen ineinanderschoben und dabei Gebirge von der Breite eines Erdteils aufturmten. Tobias hatte aufgelacht und gefragt, ob wir denn jetzt etwas davon merken wurden oder ob wir es fruher, zu Hause, gespurt hatten, wir seien doch selbst die Zeitzeugen, von denen wir gerade gesprochen hatten. Zwar sei das Tertiar, geologisch gesehen, wirklich ein relativ turbulentes Zeitalter gewesen. Aber die Steine wurden eigentlich nie schlafen, auch nicht im vermeintlich so ruhigen Holozan. Naturlich, er hatte recht: Bewohner des Tertiars hatten wahrscheinlich genausoviel oder -wenig von der Umgestaltung der Erdoberflache bemerkt, wie die Mitteleuropaer des zukunftigen 20. Jahrhunderts etwas davon mitbekommen, da? der Riesenerdteil Afrika entlang des Rift Valley, quer durch Kenia und Athiopien, unter spektakularen lokalen Begleiterscheinungen in zwei Teile auseinanderrei?t. Letztlich kam es wohl wie so oft auf den Standpunkt an, von wo aus man das Geschehen verfolgte.

Tobias holte noch einmal seine kleine Kartenkopie hervor, welche die vermutliche Verteilung von Meer und Landmassen im eozanen Mitteleuropa zeigte. Jetzt, da sie endlich wu?ten, wo sie sich befanden, betrachteten sie die fremden Umrisse der dargestellten Insellandschaft mit anderen Augen. Das war die Welt, in der sie sich jetzt bewegten.

Obwohl weltweit schon einiges an die vertraute Oberflachengestalt der Erde erinnerte, hatte der Planet im Tertiar noch in vieler Hinsicht ein anderes Aussehen, zwischen Nord- und Sudamerika gab es keine Landverbindung, was die eigentumliche Entwicklung der sudamerikanischen Saugerfauna ermoglichte, auch Afrika und Kurasien waren noch durch einen Ozean, die Tethyssee, getrennt. Italien und Griechenland schwammen in trauter Einheit als gro?e U-formige Insel da, wo heute das Mittelmeer liegt, und auch Indien trieb als eigener Erdteil irgendwo im Ozean herum, bereitete sich sozusagen auf den unmittelbar bevorstehenden gro?en Zusammensto? mit den asiatischen Festlandsmassen vor, der Geburtsstunde des Himalaja.

Tobias wu?te ungeheuer viel uber diese Vorgange und horte sich naturlich auch gerne reden. Abends im Schlafsack argerte Micha sich, wie unvorbereitet er auf diese Reise gegangen war. Aber er hatte ja nicht damit gerechnet, dies alles hier zu sehen, und eigentlich nur Tobias’ Schwindel beweisen wollen.

Unter anderem erzahlte Tobias von einer neuen faszinierenden Theorie, nach der sich die Kontinente dieser Erde alle 500 Millionen Jahre zu Pangaa, einem einzigen Superkontinent, vereinigen wurden, um dann, vielleicht in ganz neuer Gestalt, wieder auseinanderzudriften.

»Wann ist es denn wieder soweit?« fragte Micha.

»Vermutlich so in 300 Millionen Jahren.«

»Na dann haben wir ja noch ein Weilchen Zeit«, bemerkte Claudia. Sie kicherte. »Ich glaube allerdings kaum, da? die Amerikaner oder die Australier besonders begeistert sein werden, wenn sie wieder mit dem guten alten Europa vereint sind.«

Auch Micha mu?te lachen. »Stellt euch vor, was das fur weltpolitische Turbulenzen nach sich ziehen wurde. Die Europaische Union und all die anderen Staatengebilde hatten gar keinen Sinn mehr. Vollig neue Konstellationen wurden sich herausbilden. New York lage nur noch ein paar Autostunden von Berlin entfernt, Lissabon gleich neben Miami, Argentinien .«

»Ihr habt vielleicht Probleme«, unterbrach ihn Tobias kopfschuttelnd, und fur einige Minuten schallte ihr ausgelassenes Lachen hinunter auf die Hochebene.

Sie waren ganz guter Stimmung gewesen gestern abend, froh, der deprimierenden Leblosigkeit der tertiaren Wuste entkommen zu sein. Besonders Tobias schien erleichtert. Seit sie die andere Seite der Bergkette erreicht hatten, war er viel umganglicher.

Die Vulkane, die zu diesen Gesprachen Anla? gegeben hatten, waren allerdings weit entfernt, viele Kilometer. Sie wurden sicherlich nicht in die Nahe der rauchenden Bergkegel kommen, aber ihre Umrisse beherrschten auch so die weite Savanne zu ihren Fu?en.

Eine von Tobias’ Geschichten blieb Micha in besonders lebhafter Erinnerung.

Im Miozan, in ungefahr 35 Millionen Jahren also, platzt die Haut des Planeten im zukunftigen Bundesstaat Washington an der Westkuste Nordamerikas und aus riesigen Erdspalten ergie?en sich wahre Sturzbache dunnflussigen Magmas. Flutwellen aus Lava von hundert Kilometer Breite und mehr walzen sich immer wieder von neuem uber das von einer artenreichen Gro?tierfauna bevolkerte Land und begraben alles unter sich, was nicht rechtzeitig fliehen kann.

15 Millionen Jahre spater, im Holozan, finden Geologen bei Bohrungen im Osten von Washington ein seltsames Loch in dem vulkanischen Basaltboden eines Weizenfeldes. Erste Untersuchungen deuten darauf hin, da? dieses Loch von der Gro?e eines Mittelklassewagens offenbar eine sehr eigentumliche Form aufweist, und lange wird geratselt, was es damit auf sich hat. Man spekuliert uber Ciasblasen, uber komplizierte chemische Prozesse, die zu einer solchen Hohle mitten in einer machtigen Lavaschicht gefuhrt haben konnten. Dann hat jemand eine Idee und schlagt vor, das Loch mit Beton auszugie?en. Als sie den Plan in die Tat umsetzen, erleben die Wissenschaftler eine Uberraschung, zum Vorschein kommt kein formloser Klumpen, sondern ein perfekt gestaltetes Betonnashorn. Das Tier ist wohl im Miozan vor einer meterhohen und auf gro?er Breite herannahenden Lavafront geflohen, vielleicht viele Stunden oder gar Tage um sein Leben gerannt und schlie?lich entkraftet zusammengebrochen. Das Magma begrabt das urzeitliche Rhinozeros, und in dem viele tausend Grad hei?en flussigen Gestein verschmort der kraftige Tierkorper innerhalb kurzester Zeit. Aber das tragische Ereignis bleibt nicht ohne Spuren. Noch im Tod pragt das Leben dem Stein fur alle Zeiten seinen Stempel auf. Der Nashornkadaver war gro? genug, um die umgebende Lava deutlich abzukuhlen, und so erstarrt die Schmelze rings um den Tierkorper zu einer harten Gesteinskruste, schlie?t sich zu einer nahezu perfekten Hohlform. Zuruck bleibt ein Loch in Nashorngestalt.

Stunden spater. Wieder eine neue Windung des Flusses.

Wahrend sich auf ihrer Seite der Biegung einige gro?e Baume mit dichtem Unterholz zu einem Waldchen gruppierten, hatte der Flu? auf der anderen Seite eine gro?e flache Bucht ausgespult, in der zahlreiche Wasserpflanzen wuchsen. Was sie dort sahen, verschlug ihnen den Atem. Sie blieben wie angewurzelt stehen.

Im Uferbereich und in den dichten Bestanden der Wasserpflanzen tummelte sich die verruckteste und au?ergewohnlichste Gesellschaft von Lebewesen, die ihnen bis dahin unter die Augen gekommen war. Es gab sicherlich noch viel fremdartigere Wesen als die, die sie hier sahen, aber wahrscheinlich war es gerade die Kombination von Vertrautem mit vollig Ungewohnlichem, die diese hier so besonders faszinierend machte. Es waren allesamt eindeutig Saugetiere, aber keines lie? sich so ohne weiteres in bekannte Schemata einordnen. Mit dem Tertiar begann ja das Zeitalter der Sauger, die innerhalb relativ kurzer Zeit eine gro?e Formenfulle hervorbrachten. Sie befanden sich jetzt gewisserma?en in der Morgenrote dieser Entwicklung.

Auf der Lichtung, die sich bis zu dem Waldchen erstreckte, lagen einzelne Felsblocke herum, die eine hervorragende Deckung boten. Hinter diesen Steinen versteckten sie sich, legten ihre Rucksacke ab und ruhrten sich fur die nachsten Stunden kaum von der Stelle. Leider besa?en sie nur ein Fernglas, mit dem sie das Treiben auf der anderen Seite beobachten konnten. Ungeduldig rissen sie es sich nun immer wieder gegenseitig aus den Handen. Zur Not konnte man auch durch Tobias’ Teleobjektiv schauen.

Zwei gro?e, massige Burschen standen im flachen Wasser und fuhlten sich dort unter vernehmlichem Schnaufen augenscheinlich sehr wohl. Tobias nannte sie Schaufelzahner. Es war schon beeindruckend, da? er fur fast jedes dieser Tiere einen Namen parat hatte. Was die lateinischen Namen anging, mit denen er ausgesprochen gerne um sich wart, so konnte er ihnen naturlich den gro?ten Unsinn erzahlen, ohne da? sie etwas davon nachprufen konnten. Aber diesmal sah Micha sein vor Erregung gluhendes Gesicht und glaubte ihm. Er selbst kannte kaum eines dieser Tiere. Tobias war in diesen Stunden vorbehaltlos und uneingeschrankt glucklich, und Micha verspurte zum ersten Mal seit langerer Zeit wieder so etwas wie Sympathie fur seinen alten Schulfreund. Tobias’ Begeisterung war ansteckend und ubertrug sich auch auf ihn und Claudia. Es half ihnen, das mulmige Gefuhl im Magen zu vergessen, das die zum Teil riesigen Urzeitwesen in ihnen hervorriefen. Micha nahm sich jedenfalls zum wiederholten Male vor, sich nach ihrer Ruckkehr viel mehr mit diesen Dingen zu beschaftigen.

Den Namen Schaufelzahner hatte er im ubrigen keine Sekunde angezweifelt, denn er beschrieb die Tiere sehr zutreffend. Es waren fruhe Elefanten, wie die Dinotherien ein spater ausgestorbener Seitenzweig der gro?en Gruppe der Russeltiere, von deren gro?em Artenreichtum in ferner Zukunft nur kummerliche zwei Formen

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