Plotzlich streckte der Vogel seinen Kopf vor in ihre Richtung, stie? einen krachzenden Schrei aus, der Micha noch nachtelang in seinen Traumen verfolgen sollte, packte das tote Urpferd, warf es ein paarmal im Schnabel hin und her und schlang die leblose Beute in einem Stuck hinunter. Dann rannte er auf seinen ungemein kraftigen Beinen zuruck in den Wald, aus dem er gekommen war. Eine Weile horte man aus dem Gestrauch noch das Knacken der Aste.

»Verdammt, habt ihr das gesehen? Habt ihr gesehen, wie der mich angeglotzt hat?« keuchte Micha. Er war leichenbla? und wischte sich den Schwei? von der Stirn. »Und ... ich hatte die ganze Zeit das Gefuhl, er wu?te genau, da? wir hier sitzen.« Fur heute war sein Bedarf an Riesenvogeln gedeckt. Claudia schien es nicht viel anders zu gehen. Sie wirkte sehr erleichtert.

»Mann, Leute, ich hab vergessen, ihn zu fotografieren«, sagte Tobias mit weinerlicher Stimme. Auch ihm standen Schwei?perlen auf der Stirn. »Das verzeih ich mir nie.«

Claudia schuttelte verstandnislos den Kopf. »Du hast Sorgen. Ich bin froh, da? ich noch lebe, und du hast nur deine Kamera und deine nicht gemachten Fotos im Kopf. Die kannst du doch spater au?er Sonnenberg sowieso niemandem zeigen.«

Der Diatryma hatte die Idylle dieses Platzes grundlich zerstort. Wahrend die Tiere wieder zur Tagesordnung ubergegangen waren und friedlich badeten, tranken oder fra?en, vermutete Micha nun hinter jedem Busch, jedem Baum und jedem Felsen hungrige Sabelzahnkatzen und Schlimmeres. Wo so viele gro?e Pflanzenfresser herumliefen, konnten eigentlich auch die entsprechenden Raubtiere nicht weit sein. Und wenn hier schon kleine Hirsche mit zentimeterlangen Eckzahnen bewaffnet waren, wie mochten dann erst die wirklichen Rauber aussehen?

Ihm war plotzlich vollig unverstandlich, wie sie hier sorglos und ohne jede Bedenken, mit nichts als ihren Taschenmessern bewaffnet, durch diese wilde Landschaft spazieren konnten, als befanden sie sich auf einem Sonntagnachmittagsausflug durch den sommerlichen Tiergarten. Er begann zu zittern. Wie jemand, der unter starker Hohenangst leidet und sich nicht auf eine schwankende Hangebrucke traut, druckte er sich mit dem Rucken gegen den schutzenden Felsen und umklammerte seine Knie dabei.

Sie blieben noch etwa anderthalb Stunden in ihrem Versteck, und diese Zeit brauchte Micha auch, um sich uberhaupt wieder in der Lage zu sehen, weiterzulaufen. Er versenkte sich wieder in den Anblick der friedlichen Gesellschaft am anderen Flu?ufer, deren offensichtliche Arglosigkeit auch ihn langsam wieder ruhiger werden lie?. Besonders die Schaufelzahner boten einen ungemein friedlichen und gelassenen Anblick. Schubkarrenweise mummelten sie wieder ihre Wasserpflanzen, als ware nichts geschehen.

Gerade als sie aufbrechen wollten, machte sich ein leichtes Vibrieren des Bodens bemerkbar. Sie schauten sich zu den Vulkanen um, weil sie unwillkurlich vermuteten, diese seien fur das Beben verantwortlich, aber die beiden Bergriesen stie?en nur unverandert ihre Rauchwolken aus und sahen ansonsten so friedlich und unschuldig aus, wie das einem tatigen Vulkan eben moglich ist. Es waren nicht die Vulkane. Es war etwas anderes, Lebendiges. Claudia entdeckte die Staubwolke als erste, die sich aus der Ferne dem gegenuberliegenden Flu?ufer naherte. Die Tiere an der Tranke schienen ebenfalls zu bemerken, da? dort irgend etwas Gro?es im Anmarsch war, dem man besser aus dem Wege ging. Ohne allzu gro?e Eile an den Tag zu legen, zogen sie sich zuruck und machten Platz.

Aus dem Vibrieren war ein tiefes Donnern geworden. In der Staubwolke konnte man bald die Umrisse gro?er Tierkorper erkennen, die im Laufschritt unaufhaltsam zu der Tranke strebten und dabei alles niederzuwalzen drohten, was sich nicht rechtzeitig aus dem Staube gemacht hatte. Es mu?te eine riesige Herde sein. Kurz darauf trafen die ersten schnaufend am Flu?ufer ein, und sie konnten erkennen, da? es sich um ungeheuer kraftige und bullige Tiere handelte, die entfernt an Nashorner erinnerten, aber erheblich gro?er waren.

»Donnertiere, Brontotherien«, sagte Tobias und begann sofort wild herumzuknipsen.

Claudia stand vor Erstaunen der Mund offen. »Der Name pa?t«, flusterte sie.

Micha dachte zuerst, Tobias wolle sie auf den Arm nehmen. Donnertiere, den Namen hatte er sich doch ausgedacht. Aber ohne den Blick von der Herde abzuwenden, erklarte Tobias mit leiser Stimme, da? der Name auf die nordamerikanischen Indianer zuruckginge. Sie waren haufig auf die Knochen dieser Tiere gesto?en und glaubten, da? es sich um riesige Pferde gehandelt habe, die uber den Himmel galoppierten und dabei Gewittersturme auslosten.

Micha mu?te kurz daran denken, was wohl aus ihnen geworden ware, wenn sich diese Donnertiere auf ihrer Seite des Flusses eingefunden hatten. Er mu?te an die gro?en Herden denken, die in ihrem Rucken weideten und von dem vielen trockenen Gras sicherlich auch irgendwann einmal Durst bekamen. Diese gewaltigen Sauger hatten nicht allzu viel von ihnen ubriggelassen. Die Brontotherien, deren Schultern sie sicher um Haupteshohe uberragten, machten zwar einen relativ gutmutigen Eindruck, aber ein einziger ungeschickter Schritt oder ein unabsichtlicher Stubser eines solchen Fleischberges hatte sie mit Schwung in die ewigen Jagdgrunde befordert.

Es waren Hunderte. An der Kopfspitze trugen sie ein gro?es Y-formiges Horn mit stumpfen, kolbenartigen Enden, hatten relativ kleine Augen und Ohren und eine derart massige Schulter- und Nackenpartie, da? sich daran wohl selbst ein Sabelzahntiger die Zahne ausgebissen hatte.

Immer mehr Brontotherien drangten sich ans Wasser. Dicht an dicht standen sie nebeneinander, eine einzige undurchdringliche Wand dampfender, graubrauner Leiber, deren Durst sie unwillkurlich um den Fortbestand des Flusses furchten lie?. Die sanfte Brise wehte einen durchdringenden Geruch zu ihnen heruber. Pencil, den Claudia wieder auf den Boden gesetzt hatte, hob schnuffelnd die Nase, lie? sich dann seufzend im Gras neben dem Felsen nieder und machte Anstalten, ein Nickerchen zu halten. Er hatte offensichtlich ein gutes Gespur dafur, in welchen Momenten es besser war, keine unnotige Aufmerksamkeit zu erregen. Zwischen ihnen und der Bron-totherienherde stromte zwar das braune Flu?wasser, aber man konnte ja nie wissen.

Mindestens eine halbe Stunde lang beherrschte das Schnaufen und Grunzen der Donnertiere die Szene. Selbst die Schau-felzahner schienen Respekt vor den Neuankommlingen zu haben, jedenfalls hatten sie sich etwas tiefer ins Wasser zuruckgezogen, fra?en dort aber seelenruhig weiter. Dann, wie auf ein unhorbares Kommando, kam Unruhe in die Herde, und die Tiere machten ihrem Namen alle Ehre, galoppierten wieder in einer haushohen Staubwolke davon in die Weite der Graslandschaft und hinterlie?en einen vollig zertrampelten und verwusteten Uferbereich. Erst nach und nach kehrten die anderen Tiere an die Tranke zuruck.

Fur sie wurde es hochste Zeit aufzubrechen. Sie mu?ten sich noch einen sicheren Lagerplatz suchen, und nach allem, was sie gerade erlebt hatten, fand Micha, da? sie sich bei der Auswahl dieses Platzes wirklich gro?e Muhe geben sollten. Sie schulterten ihre Rucksacke und machten sich auf den Weg. Tobias redete die ganze Zeit uber wie ein Wasserfall. Er war absolut begeistert.

Einige Zeit spater hatten sie im Schatten eines riesigen freistehenden Baumes das Zelt aufgestellt. In der Ferne der sanft hugeligen Graslandschaft vor den hoch aufragenden Vulkankegeln konnte man wieder gro?e Tierherden erkennen, aber sie waren so weit entfernt, da? sie selbst mit Hilfe des Fernglases nicht sagen konnten, um was es sich handelte, vielleicht Bron-totherien, vielleicht aber auch irgendwelche anderen Riesen, die sie noch nicht kannten. Da aber das, was im Augenblick in gro?er Ferne herumlief, auch einmal hier in der Nahe des Flusses auftauchen konnte, beschlossen sie, reihum Wache zu halten. Sie sollte auch und vor allen Dingen auf das Feuer aufpassen.

Es war nicht ganz einfach, genugend Brennholz zu finden, aber mit vereinten Kraften sammelten sie doch einen gro?eren Haufen, der fur eine Nacht reichen sollte. Das Feuer wurde zwar meilenweit zu sehen sein, aber immerhin gab es hier keine Menschen, die dadurch alarmiert werden konnten, und wenn doch, dann hatten sie wenigstens die Genugtuung, samtliche wissenschaftlichen Erkenntnisse uber die Entstehung der Gattung Homo uber den Haufen geworfen zu haben. Der Mensch, ja, sogar seine fruhesten Vorlaufer waren noch einige Zehnmillionen Jahre entfernt. Zum Abendbrot gab es Spaghetti mit Buchsenfleisch. Tobias verkroch sich danach fruh ins Zelt und Micha blieb mit Claudia allein am Feuer sitzen. Sie unterhielten sich leise uber die Erlebnisse des Tages und lauschten dann schweigend dem Prasseln der Flammen und den unbekannten Lauten der Nacht. Uber den fernen Gipfeln der Vulkane schwebte in der Dunkelheit ein rotlicher Schimmer.

Nach einer Weile stand Claudia auf, kam zu ihm hinuber auf die andere Seite des Feuers und kuschelte sich wortlos an ihn. Er freute sich daruber, fuhlte sich aber gleichzeitig gehemmt. Er hatte Angst, Tobias konnte sie aus dem Zelt beobachten. Der Zelteingang war nicht geschlossen. Er hatte nur die Fliegengaze hinter sich zugezogen. Dahinter war nichts zu erkennen. Vielleicht lag er da im Dunkeln auf seiner Matte und starrte zu ihnen hinaus.

Es war der vierte Tag, den sie am Flu? entlang durch die Savanne marschieren wollten. Aber nach dem Fruhstuck beschlossen sie spontan, nicht weiterzulaufen, sondern hier an Ort und Stelle zu bleiben, sich

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