auszuruhen und etwas die Gegend zu erkunden. Sie waren trage und sehnten sich alle danach, einmal einen ruhigen Tag zu verbringen. Au?erdem bot sich ihr sicherer, wie eine Festung ringsum von Felsen umgebener Lagerplatz fur einige faule Stunden geradezu an. Die gro?en Felsmonolithen bildeten eine Art naturlichen Irrgarten mit engen Durchlassen und dunklen Sackgassen, kein geeigneter Platz fur Herden gro?er Tiere.
Claudia spielte mit Pencil am Flu?ufer, Tobias putzte sein Taschenmesser, und Micha versuchte ein Buch zu lesen. Nach ein paar Zeilen klappte er es aber wieder zu. Er fand es hier, 50 Millionen Jahre vom heimatlichen Bucherschrank entfernt und umgeben von Schaufelzahnern, Brontotherien und Diatrymas, doch zu absurd, in einem Buch zu lesen. Wenn er wenigstens Fachliteratur mitgenommen hatte, um all die Fragen zu beantworten, die ihm durch den Kopf geisterten. Statt dessen verschrankte er die Hande im Nacken, sa? eine Weile reglos da und lie? seinen Blick uber die Savanne zu den rauchenden Vulkanen und den gro?en Herden schweifen. Dann begann er Tagebuch zu schreiben. Es gab da einiges, das ihm nach den Eindrucken der letzten Tage nicht mehr aus dem Kopf ging. Je langer er sich an diese urtumliche Welt und ihre Bewohner gewohnte, desto unverstandlicher und deprimierender fand er den Gedanken, da? all dies nicht uberleben wurde. Fur jede Lebensform schlug irgendwann die Stunde der Wahrheit. Er hatte diesen Gedanken noch nie so schmerzhaft empfunden wie angesichts dieser uppigen tropischen Welt, von der er wu?te, da? sie keinen Bestand haben wurde. Nichts hatte Bestand. Jener zukunftigen Welt, aus der er stammte, wurde es nicht besser ergehen, auch ohne die unruhmliche Rolle, die seine eigene Spezies dabei spielte. Welchen Sinn hatte das alles?
Claudias Stimme ri? ihn aus seinen Gedanken.
»Micha, Tobias, kommt mal her!« Sie hatte irgend etwas entdeckt.
Claudia stand keine zweihundert Meter entfernt mit hangenden Schultern in einer kleinen, vom Flu?wasser rundlich ausgespulten Bucht und zeigte vollig entgeistert auf einen Punkt vor ihr im Ufersand.
Was dort lag, war jedoch kein urzeitliches Wasserwesen von abenteuerlichem Aussehen, es war uberhaupt nichts Lebendiges. Es war auch kein Stein oder Holz. Es war etwas vollkommen anderes, etwas, das ihnen allen nur zu gut bekannt war. Micha hatte jedenfalls noch eine Minute vorher die Existenz eines solchen Dings hier und jetzt genauso vehement ange-zweifelt, wie er Tobias’ Ansinnen einer moglichen Reise in die Urzeit von sich gewiesen hatte. Dieses Ding hatte hier absolut nichts zu suchen und angesichts der gro?en Sinnfrage, der kosmischen Spharen, in denen sich seine Gedanken noch wenige Minuten zuvor bewegt hatten, mu?te er sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Aber so wahnsinnig komisch war Claudias Fund bei naherer Uberlegung eigentlich nicht. Vor ihnen lag eine zerbeulte Cola-Dose.
Sie waren sprachlos.
Dann versuchte Micha sein Gluck. »Vielleicht ist sie vom Flu? hierhergespult worden?«
»Du meinst, die ganze Strecke durch die Hohle, uber die Meeresbucht?« fragte Claudia zweifelnd. »Und gegen die Stromung?«
Er zuckte mit den Achseln. Nein, besonders wahrscheinlich klang das nicht.
»In der Slowakei gibt es keine Coca Cola-Dosen. Das ist Pepsi-Territorium«, behauptete Tobias.
»Vielleicht hat sie ein Tourist in den See geworfen«, schlug Micha vor, aber so recht glaubte er selbst nicht daran.
Am wahrscheinlichsten war eine Moglichkeit, an die sie naiverweise bisher noch nie gedacht hatten oder nicht hatten denken wollen: Die Hohle existierte, und es gab Menschen, die von ihr und ihrem Geheimnis wu?ten. Warum sollten sie dann die einzigen sein, die davon Gebrauch machten?
Claudia war die erste, die es aussprach: »Nein, es war schon jemand vor uns hier.«
»Naturlich, Sonnenberg«, sagte Tobias mit gequaltem Gesichtsausdruck.
»Gab es denn damals schon Cola-Dosen?« fragte Micha. »Vor mehr als zwanzig Jahren?«
Es war wirklich verruckt. Da hatten sie die urtumlichsten Landschatten, die abenteuerlichsten Lebewesen gesehen und einen Sprung uber unvorstellbare Zeitraume hinter sich gebracht, aber nichts hatte bisher ihre Aufmerksamkeit derart gefesselt wie diese beschissene Alubuchse. Die Aussicht, da? sich hier Menschen aufhalten konnten, erschien ihnen aus irgendeinem Grunde beunruhigender als alle Untiere dieser Zeit zusammengenommen.
Tobias wirkte regelrecht verzweifelt, als sturze fur ihn eine Welt zusammen. Er hockte neben der Cola-Dose und starrte sie an, als wolle er sie hypnotisieren, als wurde sie Auskunft geben, wenn man sie nur eindringlich genug musterte oder recht hoflich darum bat.
Plotzlich kam Leben in ihn. Seine Knie knackten, als er sich abrupt aufrichtete. »La?t uns mal gucken, ob wir noch mehr finden!«
Sie schwarmten sofort aus und suchten die Umgebung ab. Ohne auch nur eine Sekunde zu verweilen, schweifte Michas Blick uber eigentumliche Pflanzen und seltsamste Kleintiere, die ihn noch vor wenigen Minuten gefesselt und in Entzucken versetzt hatten. Schlie?lich stie? er gar nicht weit entfernt auf etwas, das wie eine alte Feuerstelle aussah. Er schrie sich den Hals aus dem Leib.
»Tatsachlich!« sagte Tobias, vom Rennen atemlos.
Jetzt gab es kein Herumgerede mehr. Es war jemand vor ihnen hier gewesen, und dieser jemand war kein verfruhter Urmensch, was die Sache ja noch einigerma?en reizvoll gemacht hatte. Herumliegende Konservenbuchsen, deren deutsche Aufschriften man gerade noch erahnen konnte, und eben jene Cola-Dose sprachen eine deutliche Sprache.
»Vielleicht hat Sonnenberg die halbe Universitat hier runtergeschickt. Nur wir haben davon nichts mitbekommen«, sagte Micha und erntete einen giftigen Blick von Tobias.
Was waren das fur Leute, die mit Cola-Dosen bewaffnet in die Vergangenheit reisten und diese dann auch noch achtlos in der Gegend herumliegen lie?en, als befanden sie sich am Strand von Palma de Mallorca?
Da hatten sie geglaubt, zu einem kleinen, elitaren Kreis von Menschen zu gehoren, denen sich ein ungeheuerliches Geheimnis offenbarte - und nun stellte sich heraus, da? hier vielleicht ein reges Kommen und Gehen herrschte, womoglich eine Art Urzeittourismus mit knipsenden und grinsenden Japanern, mit Kaugummi kauenden Amerikanern in karierten Hosen und schmerbauchigen Deutschen mit vom Sonnenbrand geroteter Haut.
Was war aus ihnen geworden? Waren sie zuruckgekehrt und hatten ihre Urzeit-Dias zwischen T wie Tansania und V wie Venezuela in den Schrank gestellt, um sie dann, Bier saufend und Kartoffelchips mampfend, einmal ihren gelangweilten Freunden zu zeigen und damit anzugeben?
Das Unternehmen war irgendwie entweiht. Tobias’ Laune sackte nach dieser Entdeckung in den Keller. Fluchend und schmollend sonderte er sich ab und trieb sich eine Weile in der Gegend herum. Die verlorene Exklusivitat ihrer Erlebnisse vermieste ihm grundlich und sehr nachhaltig die Stimmung. Er ubertrieb mal wieder ma?los, bis Claudia und Micha seine Bemerkungen uberhorten oder mit einem »Du spinnst ja!« oder »Nun komm mal wieder auf den Teppich!« abkanzelten.
An diesem Tag ging Micha zum ersten Mal ernsthaft der Gedanke durch den Kopf, sie konnten Menschen begegnen, feindseligen, verzweifelten Menschen, die es zum Beispiel auf ihre Titanic abgesehen hatten, weil sie ansonsten keine Moglichkeit sahen, wieder nach Hause zu kommen. Eine entsetzliche Vorstellung, die ihm augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren lie?: bis zum Skelett abgemagerte, verwilderte, dem Wahnsinn nahe Gestalten, die sich knuppelschwingend aus einem Hinterhalt auf sie sturzten, weil durch ihr Erscheinen die verzweifelte Hoffnung auf Ruckkehr aufgekeimt war.
Micha sah, wie sich Tobias das Fernglas schnappte und das Lager verlie?.
»Wo willst du denn hin?«
»Ich lauf mal ‘n paar Schritte. Mu? ich dir uber jeden Schritt Rechenschaft ablegen?« fragte Tobias und machte sich, ohne eine Reaktion abzuwarten, auf den Weg.
Was immer er vorhatte, er wollte es offenbar alleine tun. Er blickte sich nicht einmal um, ob jemand Anstalten machte, ihm zu folgen. In seinen staubigen Sachen sah er aus wie ein alten Westernfilmen entsprungener Desperado. Nur die modernen Turnschuhe wollten nicht dazu passen.
Claudia, die gerade ihren Schlafsack nach irgendwelchen ungebetenen Untermietern durchsuchte, blickte kurz zu ihm heruber und tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
»Jetzt schnappt er total uber«, sagte sie, als Tobias zwischen den Felsen verschwand. Sie schuttelte verstandnislos den Kopf.
»La? ihn doch! Wenn er unbedingt den Held spielen mu?«, antwortete Micha. Sie hatte recht. Es war Wahnsinn, hier alleine herumzulaufen. Was wu?ten sie denn schon von den Gefahren, die hier auf sie warteten?