Claudia hatte keinen Erfolg bei ihrer Suche, rollte den Schlafsack wieder sorgfaltig zusammen und hockte sich neben Micha auf eine der Matten. Pencil kam angetrottet. Sie hob ihn hoch und setzte ihn auf ihren Scho?, wo er es sich sofort bequem machte. Zusammen schauten sie auf den Flu? hinaus.
Claudia untersuchte ihren Schlafsack mehrmals taglich. Sie war formlich besessen von der Vorstellung, irgend etwas Stachliges oder Schuppiges konnte sich tagsuber in ihrem Schlafsack verstecken und dort auf sie warten. Bisher hatte sie noch nie etwas gefunden.
Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Claudias Nahe erregte ihn. Er legte den Arm um sie, ku?te sie mehrmals zartlich auf die Schlafe und spielte mit den gekrauselten Locken in ihrem Nacken. Die blonden Harchen auf ihrem Arm glanzten verfuhrerisch in der Sonne. Je brauner ihre Haut wurde, desto goldener funkelte dieser feine, weiche, bisher fast unsichtbare Flaum auf Armen und Beinen. Er fand das sehr aufregend und wollte es ihr gerade sagen. Aber er kam nicht dazu. Ein gellender Schrei irgendwo in ihrem Rucken traf sie vollig unvorbereitet.
»Was war das?« Sie sprangen beide auf. Pencil wurde abrupt in den Sand gesto?en.
Vollig kopflos rannte er erst in die eine, dann in die andere Richtung. Dieser Schrei ... das war ernst.
Plotzlich brullte er: »Du bleibst hier!« und sturmte in die Richtung, in der Tobias verschwunden war.
»Sei vorsichtig!« horte er Claudia hinter sich rufen. »Pencil! Bleib hier, du sollst hier bleiben, verdammt noch mal!« Ihre Stimme klang schrill.
Im nachsten Moment scho? ein kleines pelziges Etwas an ihm vorbei und verschwand zwischen den Felsen. Er hetzte weiter und sah hinter einer Biegung des Weges, wie der Dackel mit gesenktem Kopf und wedelndem Schwanz einer fur ihn unsichtbaren Spur folgte. Eine paar Minuten rannten sie durch das Gewirr der Felsen, die Augen starr auf den Boden gerichtet. Der Schrei schien noch immer wie ein Fremdkorper zwischen den Felsen zu schweben, als suche er sich in hektischer Eile einen Weg durch dieses urtumliche Labyrinth aus Stein.
Dann fand Micha ihn. Er hockte am Fu?e eines gro?en Felsblocks auf dem Boden, vor ihm tanzelte ein aufgeregter Pencil.
Erst, als Micha ihn fast erreicht hatte, merkte er, da? etwas nicht stimmte. Tobias sa? in sich zusammengekauert da, schwankte leicht hin und her und schien vollig mit sich selbst beschaftigt. Die Arme hielt er eng an den Korper gepre?t. Hin und wieder gab er ein leises Wimmern und Stohnen von sich.
»Tobias! Da bist du ja!« rief er ihm zu. »Alles okay?«
Das Wimmern schwoll an und entlud sich in einem lauten Aufschrei voller ohnmachtiger Wut und Enttauschung.
»Schei?e! Sehe ich aus, als ob alles okay ware?« Er wandte ihm sein schmerzverzerrtes Gesicht zu. Micha erschrak. Seine Stirn war blutverschmiert.
»Was ist denn passiert, um Gottes Willen? Bist du verletzt?«
Er antwortete nicht gleich, wohl weil ihm die Schmerzen den Mund versiegelten. »Ich hab mir den Arm gebrochen«, pre?te er schlie?lich hervor. Es war kaum zu verstehen.
»O Gott!«
Micha hockte sich neben ihn und sah jetzt, da? auch seine Hande voller Blut waren. Pencil winselte.
Axt wollte gerade das Haus verlassen, um zur Arbeit zu fahren, als das Telefon klingelte.
»Gehst du mal ran, Marlis?« rief er ihr zu. »Wenn jemand nach mir fragt: Ich bin schon weg.«
Sie kam aus der Kuche, wo sie fur den Jungen irgendeinen Zaubertrank zubereitete.
Stefan war krank. Nichts Ernstes, er hatte leichtes Fieber, aber Marlis hatte ihn ins Bett gesteckt und in der Bibliothek angerufen, da? sie heute nicht kommen konnte.
Axt trat vor die Haustur und schauderte. Es war noch einmal empfindlich kalt geworden. Leichte Nachtfroste, hatte der Wetterbericht gesagt. Er schaute auf die Uhr. Fast halb zehn. Er war spat dran.
»Helmut, es ist Sabine. Sie sagt, sie mu? dich unbedingt sprechen.«
Wahrscheinlich hat sich jetzt die ganze Grube in Luft aufgelost, dachte er grimmig, und die Station gleich mit. Er lie? seine Aktentasche drau?en vor der Tur stehen und lief zuruck ins Haus. Marlis stand in der Diele, bedeckte die Muschel des Horers mit ihrer Hand und sagte mit betroffenem Gesicht: »Irgendwas ist los. Sie ist sehr aufgeregt.«
Voller dunkler Vorahnungen nahm er ihr den Horer aus der Hand.
»Ja, Sabine, was gibt’s denn?«
»Helmut, es ist etwas Schreckliches passiert. Du mu?t sofort herkommen!«
»Wenn du mich nicht aufhalten wurdest, ware ich schon fast da. Was ist denn los?«
»Wir hatten heute nacht Besuch in der Grube. Irgend jemand hat sich an der Bohrstelle zu schaffen gemacht.« Sie war total durcheinander, das horte Axt sogar durch das Telefon. Ihre Stimme bekam so einen piepsigen Klang, wenn sie aufgeregt war. Aber er verstand nicht, was sie meinte.
»Welche Bohrstelle?«
»Na da, wo die Geologen den Halswirbel im Bohrkern gefunden haben.«
»Sie haben es fast erreicht.«
»Hei?t das, da? sie das Skelett nicht mitgenommen haben?«
»Nein, nein, Messi ist noch im Schiefer. Aber wenn sie es noch einmal versuchen, haben sie es.«
»Ich komme!«
Auch das noch! Grabungsrauber! Er hatte doch gewu?t, da? sie Probleme bekommen wurden. Niedners Artikel mu?te in den Ohren dieser Typen wie eine Einladung geklungen haben. Kommt und holt es euch! Jetzt hatten sie den Salat. Nur, weil diese Geologen so hyperkorrekt sein mu?ten, hatten sie den Kerlen einen der spektakularsten Funde der letzten Jahre auf dem silbernen Tablett prasentiert. Die hatten offensichtlich genau gewu?t, wo sie suchen mu?ten. Nicht nur, da? ihre Messeler Fossilien einfach verschwanden, jetzt hatten sie auch noch diese Kriminellen am Hals.
»Was ist denn passiert?« Marlis stand in der Kuchentur und trocknete sich die Hande ab.
»Wir hatten heute nacht Grabungsrauber in der Grube«, sagte er und rieb sich mit der Linken uber den Nasenrucken. Er hatte leichte Kopfschmerzen.
Marlis schuttelte den Kopf. »Sag mal, bei euch geht’s ja drunter und druber in letzter Zeit. Ich dachte, ich hatte einen Mann mit einem ruhigen, krisensicheren Job geheiratet.«
»Tja«, sagte er und zuckte mit den Achseln. Diese Zeiten schienen ein fur allemal vorbei zu sein. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es war, in der Grube Messel ohne Fossilienschwund, ohne anachronistische
»Ich mu? los«, sagte er.
»Klar. Viel Gluck!«
Plotzlich drehte er noch einmal um, ging erneut zum Telefon und rief Schmaler in Frankfurt an. Der wu?te schon Bescheid. Sabine hatte in ihrer Aufregung anscheinend die ganze Gegend alarmiert.
»Geht’s dir wieder besser?« fragte Schmaler, ohne auf den Vorfall einzugehen.
»Wieso?«
»Na, neulich schienst du nicht besonders ...«
»Ja ja«, unterbrach er ihn, »mir geht’s bestens.« Er hatte ihre kleine Auseinandersetzung schon fast wieder vergessen. »Hor mal, Gernot, kannst du uns nicht ein paar Studenten von euch ruberschicken. Wir brauchen unbedingt Hilfe, sonst schaffen wir das nicht alleine. Wir mussen das Skelett moglichst noch heute herausholen.«
»Ich werde mal nachschauen, wer da ist.«
»Tu das. Wir brauchen so viele Leute wie moglich, und am besten, sie setzen sich sofort in einen Wagen und kommen raus in die Grube. Sie sollen oben am Tor warten. Wir holen sie dann runter.«
»Ich werd sehen, was sich machen la?t. Aber pa? auf dich auf, Helmut. Du solltest dich schonen. Schafer hat mir gesagt .«
»Quatsch! Ich fuhle mich bestens. Wir haben jetzt wirklich Wichtigeres zu tun.«
»Na gut. Du mu?t wissen, was du tust. Ich wunsche euch jedenfalls viel Gluck!«
In der verlassenen Station angekommen, schlupfte Axt schnell in seine Gummistiefel und machte sich unverzuglich auf den Weg in die Grube. Kaum kam er in die Nahe des Zaunes, packte ihn die Angst. Plotzlich