vor Lachen verkrampft hatten. Andreas atmete schnell. Der Dieb wurde nun schon uber alle Berge sein. Dennoch lief er die Hamergasse in ostlicher Richtung entlang, bis er auf die Breite Stra?e stie?. Zwischen den hohen Steinhausern der reicheren Burger, die sich mit kleineren Fachwerkhauschen abwechselten, tummelten sich Handler, Schweine, Ganse, Pferdefuhrwerke, herrschaftliche Wagen und Handwerker, die vor ihren offenen Laden arbeiteten. In diesem Gewimmel war der Dieb nirgendwo mehr zu sehen. Erschopft blieb Andreas stehen. Die Sonne spiegelte sich in den Fensterscheiben der wohlhabenderen Anwesen, in den Geratschaften und Schildern der Handwerker und in den wenigen verbliebenen Pfutzen sowie in der Gosse, in der eine seltsame, nicht gerade wohlriechende Mischung von Flussigkeiten schwamm. Einige der Passanten neigten den Kopf vor Andreas und murmelten »Gelobt sei Jesus Christus«, andere schauten ihn mit unverhohlener Neugier an. Er musste ein seltsames Bild abgeben: vollig erschopft, mit inzwischen schief sitzendem Priesterrock, hochrotem Kopf und schrecklich au?er Atem.
Und das Buch war fort. Andreas sah die Breite Stra?e hinauf und hinab und ging schlie?lich in Richtung Ehrenstra?e und Ehrenpforte. Offenbar hatte das Buch in Ludwigs Fall doch eine Bedeutung. Oder hatte der Kramer es ihm nur gestohlen, weil er glaubte, es zu gutem Geld machen zu konnen?
Je weiter er kam, desto kleiner wurden die Hauser, desto einfacher wurde das Fachwerk, desto schlechter waren die Wande verputzt. Hier losten gegerbte Haute das Glas in den Fenstern ab, sodass die Stra?e dunkler wirkte.
Irgendwo vor ihm gab es einen Aufruhr. Ganse gackerten, laute Stimmen plapperten aufgeregt durcheinander, sodass man kein Wort verstehen konnte, und eine Hellebarde blitzte im Sonnenschein auf. Neugierig naherte sich Andreas dem Auflauf.
In der Mitte stand eine abgerissene Gestalt, der man die Hande auf den Rucken gedreht hatte. Andreas erkannte sie sofort wieder. Es war der Kramer, der ihm das Buch gestohlen hatte. Mit neuer Hoffnung hastete er auf die Gruppe zu. Zwei Buttel, einer davon mit Hellebarde, hatten ihn zwischen sich genommen und untersuchten einen glei?enden Handspiegel mit reicher Vergoldung sowie das kleine Buch. Andreas drangte sich an den Neugierigen vorbei, die lauthals forderten, der Dieb solle in den Turm gebracht werden, und stellte sich vor die Buttel.
»Das Buch gehort mir«, sagte er hastig. »Dieser Mann hat es mir vorhin gestohlen.«
Der Buttel mit der Hellebarde, ein vierschrotiger Kerl mit einem riesigen Bart, meinte: »Verdammter Kerl, haben ihn gerade erwischt, wie er diesen Spiegel auf dem Weg hat mitgehen lassen. Das Buch gehort Euch?«
»Nein, es gehort ihm nicht«, sagte der Dieb schnell und grinste Andreas an. »Es gehort niemandem. Es sucht sich seinen Herrn selbst. Und dieser Priester will doch wohl nicht behaupten, dass ihm ein so gotteslasterliches Werk gehort.«
Der Buttel, der den Dieb mit der einen Hand im Griff hielt, hob mit der anderen das Buch vor seine Nase. Andreas dachte fieberhaft nach. Es stimmte, der Inhalt des Bandes war im hochsten Ma?e gotteslasterlich. Wurde er sich der Gefahr aussetzen, vor das Inquisitionsgericht geladen zu werden, wenn er sich als Eigentumer des Buchleins ausgab?
»Ein gotteslasterliches Werk?«, fragte der Buttel mit der Hellebarde und legte die Stirn in Falten. Er nahm seinem Freund das Buch ab und blatterte es unbeholfen mit einer Hand durch. Es war deutlich zu erkennen, dass er nicht lesen konnte. Innerlich atmete Andreas auf.
»Bei diesem Buch handelt es sich um eine Sammlung frommer Gebete in gutem Latein, aufgeschrieben nur zu dem Zweck, uns Priester und gebildete Laien zu erbauen«, sagte er rasch und streckte die Hand danach aus. »Dieser Schuft hat es mir entrissen, als ich soeben Zwiesprache mit Gott hielt.«
»Er lugt!«, rief der Dieb und versuchte sich aus dem Griff des Buttels zu befreien. »Dieser angebliche Priester ist ein Teufelsbundner!«
»Lest doch selbst«, meinte Andreas zu den Butteln. »Dann werdet Ihr sehen, dass es nichts als Gebete sind.«
»Wir konnen nicht lesen«, gaben sie gleichzeitig zu.
»Dann will ich euch daraus vorlesen«, erbot sich Andreas.
»Gebt ihm das Buch nicht!«, warnte der Dieb. »Er will euch verhexen.«
Die versammelte Menge raunte und wich vor den vier Mannern zuruck.
»Glaubt ihr einem dahergelaufenen Dieb etwa mehr als einem Mann Gottes?«, fragte Andreas und versuchte, die ganze Autoritat seines Amtes hervorzukehren. Der Buttel, der das Buch in der Hand hielt, sah zweifelnd von dem Dieb zu Andreas und wieder zuruck. Schlie?lich handigte er dem Priester widerstrebend das Buch aus. »Es muss zu meinem Meister zuruckkehren. Ihr macht einen schrecklichen Fehler!«, schrie der Dieb.
Andreas nahm das Buch mit zitternden Fingern an sich. Kurz traf sich sein Blick mit dem des Diebes. Er sah Hass und Angst. Todesangst.
Andreas schlug das Buch auf und tat so, als lese er das Paternoster. Die Buttel grinsten, sie erkannten den Text. »Und du wolltest uns weismachen, dass das ein Teufelsbuch sei«, schnauzte der mit der Hellebarde den Dieb an. »Jetzt komm mit. Du hast ein neues Zuhause. Es wird dir im Turm prachtig gefallen, denn da hast du viele Freunde.« Die Menge zerstreute sich, und der Dieb wurde abgefuhrt. Er rief hinter Andreas her: »Jetzt bist du verdammt, Pfaffe! Denk an meine Worte!«
Andreas hatte das Buch in seinem Bett verborgen und war dann zur Messe geeilt. Er kam nur wenige Minuten zu spat, zog aber die strengen und missbilligenden Blicke Pfarrer Hulshouts auf sich. Nach der Messe musste er sich eine Standpauke anhoren und versicherte Hulshout, er werde nie wieder zu spat kommen. Der alte Priester schien ihm nicht recht glauben zu wollen, entlie? ihn aber dann bis zur Abendmesse. Sofort eilte Andreas aus der Sakristei durch das eingerustete Kirchenschiff, den Seiteneingang hinaus auf den Kirchhof und zur Hintertur des Pastorates. Er warf einen raschen Blick in die Richtung, in der Ludwig Leyendeckers Grab lag, und verschwand dann im Haus.
Wie mochte es Elisabeth auf ihrer Reise ergehen? Der Gedanke an sie gab Andreas neuen Mut. Er eilte an der Kuche vorbei, aus der soeben Grete trat und ihn freundlich gru?te, lief die knarrende Holztreppe hoch und verbarg sich in seiner Kammer. Er holte das Buch unter der Daunendecke hervor und begann zu lesen.
Es war schrecklich. In langen lateinischen Gebeten wurde hier der Teufel angerufen und eine genaue Anweisung zum Herstellen des magischen Kreises sowie des Zauberstabes gegeben. Andreas hatte von solchen Buchern wahrend seiner Studien in Bologna gehort, aber ihm war noch nie eines zu Gesicht gekommen. Mit zitternden Fingern blatterte er das kleine, blasphemische Buch durch. Sollte Ludwig es tatsachlich benutzt haben? Das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Sein Freund hatte nie etwas mit der Welt des Erzfeindes zu schaffen gehabt.
Was fur schreckliche Worte: … Iam tibi impero et praecipio, maligne spiritus, ut confestim hinc a me et summa illa pecuniarum allata et circulo discedas, absque omni strepitu, terrore, clamore et foetore, atque sine omni damno mei tarn animae quam corporis… Andreas konnte nicht begreifen, dass es Menschen gab, die sich mit solch abscheulichen Dingen beschaftigten. Er schlug das Buch zu und schaute aus dem Fenster. Sankt Kolumba hockte im Vorabendlicht, verunstaltet durch den Kran und die Geruste – wie ein Hohn auf ein ehrwurdiges Gotteshaus. Die Sonne hatte sich am Turm aufgespie?t; es wirkte, als blute sie. Blutrot – wie der Wein bei der Wandlung vorhin. Wein… Andreas schuttelte den Kopf. Wie hing das alles zusammen – der Wein, Ludwigs Tod, seine Witwe, die kaum trauerte, seine Konkurrenten, dieses grassliche Buch, die angeblichen Untaten seines engsten Freundes, mogliche Intrigen in der Kaufmannschaft oder auch im Rat der Stadt… Alles war so verwirrend. Andreas sah nur lose Enden. Nichts fugte sich zusammen.
Er offnete das Buch und betrachtete den vorderen Innenspiegel, wo man ublicherweise die Besitzvermerke eintrug. Naturlich stand Ludwigs Name nicht darin, wie er schon beim ersten Durchblattern bemerkt hatte. Der Innenspiegel war wei? und unscheinbar. Oder war da ein Name getilgt worden? Andreas hielt das Buch dicht unter seine Nase. Da waren Unebenheiten im Papier. Und noch ein kleiner Tintenfleck, den er vorhin fur Fliegendreck gehalten hatte. Doch der Name war unmoglich zu entziffern.
Es konnte nicht Ludwigs Name gewesen sein, denn warum hatte jemand sich die Muhe machen sollen, ihn zu tilgen, vor allem, da seine Witwe doch von der Teufelsbundnerschaft ihres Mannes uberzeugt war? Ob sich irgendwo in dem Buch ein Hinweis auf den fruheren Besitzer fand? Andreas blatterte den Band noch einmal aufmerksam durch. Lange fand er nichts. Doch die letzten drei Seiten schienen von anderer Hand geschrieben zu sein, was ihm vorhin, bei oberflachlicherer Begutachtung, nicht aufgefallen war. Diese Seiten enthielten Anmerkungen zu den Teufelsbeschworungen, und der letzte Satz lautete: Ut feci in campo leprosorum vulgo