Wie viel Hass musste sich im Laufe der Zeit in ihm angestaut haben! Und dieser Hass machte ihn ungeheuer stark.
Elisabeth konnte nicht einmal mehr rocheln. Ihr Blickfeld verengte sich. Schwarze kroch von den Randern nach innen. Etwas knackte und krachte. In ihren Ohren rauschte es.
Etwas durchdrang die dichter werdende Finsternis. Heftige Bewegungen. Der Druck um ihren Hals verringerte sich.
»Was willst du, du nichtswurdiger Zwerg!«, brullte Heinrich. »Du hast hier nichts verloren!«
Elisabeth hustete und hielt sich an der Wand fest. Im Zimmer stand der linkische junge Mann, mit hochrotem Kopf, und schrie: »Lasst Eure Frau los, Bonenberg!«
»Und was ist, wenn ich es nicht tue?«, hohnte Heinrich, trat aber einen Schritt von Elisabeth zuruck.
»Dann werdet Ihr bereuen, je Hand an sie gelegt zu haben!«, gab der junge Mann zuruck.
»Du bist also ihr Beschaler? Hat sie sich bei dir betrunken? Hast du dir bei ihr geholt, was sie mir immer verweigert hat?« Er ging auf den jungen Mann los.
Elisabeth rieb sich den Hals. Das Schlucken schmerzte hollisch. Sie sah, wie Heinrich mit erhobenen Fausten auf seinen Widersacher losging. »Heinrich, nicht! Er hat nichts Unrechtes getan!«, krachzte sie.
Heinrich sah sie kurz an. Der junge Mann nutzte diese Gelegenheit und versetzte Heinrich einen Schlag gegen die Schlafe. Wie eine gefallte Eiche ging er zu Boden. Der junge Mann war mit zwei Schritten bei Elisabeth und nahm sie in den Arm. Sie lie? es kurz geschehen, doch dann wurde ihr die Nahe zu viel. Sie druckte sich von ihm ab. »Ich danke Euch, Herr…«
»Anton hei?e ich. Anton Lautensack. Es ist mir eine Ehre, Euch helfen zu durfen. Was kann ich fur Euch tun?«
»Bringt mich fort von hier.«
Anton geleitete sie aus dem Zimmer. Sie stutzte sich auf ihn. Er reichte Elisabeth ein linnenes Taschentuch, mit dem sie sich das Blut von Nase und Kinn tupfte. »Welch ein rohes Untier«, ereiferte sich Anton. »Ich habe ihn noch nie gemocht. Es ist mir ein Ratsel, wie er an eine so wundervolle Frau wie Euch gekommen ist.« Er lachelte sie unbeholfen an und war so rot wie eine Burgundertraube nach dem letzten Sonnentag im Herbst.
Elisabeth lachelte. Er war so ritterlich. Und er war ihr Retter. Sie verneigte sich im Gehen leicht vor ihm. »Ich danke Euch fur Eure freundlichen Worte. Doch nun sollten wir auf dem schnellsten Weg von hier verschwinden. Ihr werdet Euch mit Eurer heldenhaften Tat sicherlich keine Freunde in diesem Haus gemacht haben.«
»Wohin darf ich Euch fuhren?«, fragte Anton mit aufrichtiger Sorge in der Stimme. »Ich habe hier im Stalhof ein kleines Zimmer, aber es ware nicht schicklich…«
»Bringt mich zu Anne Palmer. Ich zeige Euch den Weg dorthin.«
»Ich begleite Euch uberall hin, wenn Ihr wollt.«
Als sie auf der Stra?e standen, sah Elisabeth ihren Retter von der Seite an. Ein plotzlicher Schatten legte sich uber die Hauser, die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden.
»Meint Ihr das ernst?«, fragte sie. »Es konnte eine weite, gefahrliche Reise werden.«
SECHZEHN
Es dauerte eine ganze Woche, bis Andreas sich erneut auf den Weg nach Melaten machen konnte. Denn Pfarrer Hulshout beaugte ihn argwohnisch und achtete genau darauf, dass er alle Messen punktlich las sowie seinen geistlichen Kindern die Beichte abnahm. Er musste alle Trauungen und Beerdigungen vornehmen und Hulshout, der wieder einmal wegen des neuen Altarbildes unterwegs war, beim Domkapitel vertreten. Au?erdem zog ein zweiter Familiaris in das Pfarrhaus ein, der noch weniger von Latein und Theologie verstand als der erste. Jedes Mal, wenn sich Andreas aus dem Haus zu stehlen versuchte, kam etwas dazwischen. Es war wie verhext.
Immer wieder blatterte er nach Einbruch der Dunkelheit in dem Zauberbuch, immer wieder las er die Zeilen, die sich auf Melaten bezogen. Ob Heynrici sie geschrieben hatte? Es gab auf Melaten noch andere Manner, die in Frage kamen – der dortige Geistliche, weltliche Helfer, vielleicht sogar ein durchreisender Arzt, der an diesem Ort seine unheiligen Versuche angestellt haben mochte.
Eines Abends, beim Schein einer Kerze, hatte sich Andreas das Buch wieder vorgenommen. Er glaubte weniger denn je, dass Ludwig es besessen hatte. Bestimmt war es ihm untergeschoben worden – von seiner Frau. Wer sonst hatte die Gelegenheit dazu gehabt? Warum also sollte er noch einmal nach Melaten hinausreiten? Es ware besser, wenn er sofort zu Barbara Leyendecker ging. Andreas legte das Buch aufs Bett, erhob sich und ging in der kleinen Kammer auf und ab. Drau?en war von der Welt nichts mehr zu sehen; nur Teile seines Zimmers spiegelten sich in den Butzen des Fensters. Er sah sich, wie er ruhelos umherlief – ein bleicher Schatten seiner selbst. Uberall sonst Dunkelheit, wie ein Gefangnis. Das Dunkle. Der dunkle Feind. Er warf einen Blick auf das »De Potestate«. Kurz uberlegte er, ob er mit Pfarrer Hulshout uber dieses Buch sprechen sollte, doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Hulshout hatte gro?e Angst vor dem Reich des Bosen und wurde ein solches Buch unter seinem Dach nicht dulden. Andreas empfand ebenfalls Abscheu davor, doch vielleicht konnte es ihm den Weg zu Ludwigs Morder ebnen. »Heiligt der Zweck die Mittel?«, dachte er. Durfte er sich des Bosen bedienen, um zum Guten zu gelangen? Das Buch zog ihn magisch an.
Drei Tage spater ergab sich endlich die Gelegenheit, die Pfarrei zu verlassen. Hulshout musste eine Reise nach Bonn antreten, und es gelang Andreas, einen der Monche aus dem Kreuzbruderkloster zur Messvertretung zu uberreden. Schon fruh am Morgen brach er auf; er hatte sich einen der Apfelschimmel aus dem Pfarrstall ausgeliehen, um moglichst schnell zu sein.
Er ritt durch dieselben Stra?en, in denen er den Dieb verfolgt hatte, und dachte uber dieses seltsame Erlebnis nach. Er glaubte nicht, dass der Dieb es zufallig auf sein Buch abgesehen hatte, auch wenn der Diebstahl des Spiegels eher auf das Gegenteil schlie?en lie?. Langsam ritt Andreas durch die uberfullten Stra?en, vorbei an herrschaftlichen Hausern mit Zinnen und Erkern in der Breiten Stra?e, dann durch die engere Ehrenstra?e mit ihren kleinen, windschiefen Fachwerkbauten, von denen einige schon so alt waren, dass sich ihre Balken bedenklich bogen, bis er in der Ferne die beiden massigen, aus grobem Stein gemauerten Rundturme der Ehrenpforte aufragen sah. Immer wieder fasste er sich an den Gurtel, an den er das kleine, in einem Beutel steckende Zauberbuch gehangt hatte. Es war ihm schwer wie Blei.
Er ritt auf das gro?e Wagentor in der Mitte zu und wurde nicht angehalten. Sein Priesterrock war wie ein Passierschein, zumindest, wenn es zur Stadt hinausging. Nun war er schon zum zweiten Mal seit kurzer Zeit auf dem Weg nach Westen. Er dachte daran, wie er zusammen mit Elisabeth nach Melaten geritten war. Wo mochte sie gerade sein? Ob sie in London etwas herausgefunden hatte? Vielleicht hatte sie in Erfahrung bringen konnen, was Ludwig dort bemerkt und erlebt hatte, und vielleicht stand dieses Zauberbuch gar nicht in Zusammenhang mit seinem Tod. Doch Andreas war es lieber, diese vage Spur zu verfolgen, als untatig zu bleiben. Er hatte sich entschlossen, mit Heynrici uber das Buch zu sprechen.
Und uber den Teufel.
Am Tor an der Stra?e nach Aachen zugelte er sein Pferd, sa? ab und klopfte. Wehmutig schaute er nach Westen. Dort hinten, irgendwo, war Elisabeth. Er sehnte sich nach ihr – mehr, als fur ihn gut war, wie er feststellte. Doch sofort schob er diesen Gedanken beiseite.
Derselbe Pfortner offnete ihm; er erkannte Andreas sogar. »Wieder zu Herrn Ulrich, unserem heiligma?igen Kuster?«, fragte er. Andreas nickte. Der Pfortner fuhrte ihn abermals zu dem kleinen Hauschen hinter der Kirche. Der Geistliche sah sich verstohlen um. Diesmal lie? sich kein Aussatziger blicken. Er erinnerte sich an den schrecklichen Schrei, den er und Elisabeth in jener Nacht gehort hatten, die sie hier hatten verbringen mussen. Und er erinnerte sich daran, dass er kurz zuvor Heynrici im Innenhof hatte umherschleichen sehen.
Beim letzten Mal war Andreas so aufgeregt gewesen, dass er der riesigen alten Linde rechts neben dem Kusterhaus keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, doch jetzt drang das dunkle Rauschen des gro?artigen Baumes deutlich und beruhigend in sein Bewusstsein. Im leichten Wind knarrten die Aste. Der Pfortner klopfte fur Andreas, und bald wurde die Tur langsam aufgezogen. Das Erste, was Andreas sah, war das schlohwei?e Haar: der Kranz um den Kopf und der wellige, weiche, wie aus sich selbst heraus leuchtende Bart. Der Pfortner ging.
»Ich freue mich, dass Ihr mich wieder besuchen kommt. Wo habt Ihr denn Eure zauberhafte Begleiterin