Melaten.
Andreas murmelte erschuttert die Ubersetzung: »Wie ich es im Leprosenhof getan habe, der im Volksmund Melaten genannt wird.«
Er wurde dem heiligma?igen Ulrich Heynrici noch einmal einen Besuch abstatten mussen.
FUNFZEHN
»Er hat es getan«, schluchzte Anne Palmer. »Es kann nur er gewesen sein.«
Elisabeth sah die junge blonde Frau erstaunt an. »Wollt Ihr damit sagen, dass Euer Mann meinen Bruder umgebracht hat? Wusste er denn von Eurem Verhaltnis?«
Anne nickte. »Ich glaube, er hat es von jemandem erfahren, der uns beide zusammen in der Herberge gesehen hat, in der wir uns immer getroffen haben. Als er nach Koln abgereist ist, war er entsetzlich wutend.«
Elisabeth rieb sich das Kinn. Ludwig hatte ein Verhaltnis gehabt und war seiner Frau untreu gewesen. Das hatte sie nie von ihm vermutet. Ihr Bild von ihm geriet immer starker ins Wanken. Sie rausperte sich und fragte Anne, wie es zu dieser Liebschaft gekommen war.
Anne erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Dann lief sie hinaus, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Elisabeth blieb verdutzt auf ihrem Stuhl sitzen und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Noch bevor sie zu einem Ergebnis gekommen war, betrat Anne wieder das Zimmer. Sie hielt erneut ein Tablett mit einem Krug und zwei Bechern in den Handen. »Ich glaube, den brauchen wir jetzt«, erklarte sie, stellte den Krug auf der kleinen Truhe ab, die an der wei? gekalkten Wand stand, und goss goldenen Wein in die Becher. Den einen reichte sie Elisabeth. »Der Beste, aus Bacharach, eine milde, spate Lese, nachdem der Frost schon in die Beeren gefahren war. Er stammt von Eurem Bruder – das beste Fass, das wir noch im Keller haben.« Sie prostete Elisabeth mit einem traurigen Blick zu.
Elisabeth nahm einen Schluck. Die schwere, reiche Flussigkeit rann ihr wohltuend die Kehle hinunter und schenkte ihr ein warmes Gefuhl im Magen. Der samtene, su?e Wein, der nicht einmal mit Honig vermischt werden musste, machte sie wohlig benommen; er war so viel besser als die sauren Tropfen, die Heinrich zu Hause auftischen lie? und die regelma?ig mit Honig, Wacholder und anderen Zutaten versehen wurden. Das starke Getrank loste ihr die Zunge. »Anne Palmer, wir sind Schwestern im Leide. So sollten wir uns auch wie Schwestern verhalten.«
Anne setzte ihren Becher ab, kam zu Elisabeth heruber und umarmte sie. Tranen tropften ihr auf den Hals. »Ich habe nie eine Schwester gehabt«, schluchzte Anne, »und die richtige Liebe habe ich erst durch Ludwig kennen gelernt.« Sie trat einen Schritt von Elisabeth zuruck, die ihren Weinbecher vorsichtig am ausgestreckten Arm von sich fern hielt, und sagte mit tranenerstickter Stimme: »Er war ein so wunderbarer, sanfter Mann.«
Elisabeth nickte. Nun uberwaltigte auch sie wieder die Trauer. Ja, Ludwig war ein ganz besonderer Mensch gewesen. Ihr Blick wurde feucht.
»Das war er«, sagte sie mit schwerer Stimme. »Das war er. Und wir werden seinen Morder zur Strecke bringen.«
Anne fiel ihr erneut um den Hals. »Schwester, wie ich mich darauf freue«, gluckste sie. »Edwyn wird seine gerechte Strafe bekommen. Er wird der Geschafte wegen noch lange in Koln bleiben, bevor er sich auf die Ruckreise macht. Wir werden ihn dort aufspuren.«
Die beiden Frauen genehmigten sich eine weitere Kanne besten Bacharachers.
Der Weg zuruck zum Stalhof war nicht ganz leicht. Die ganze Welt schien zu schwingen. Plotzlich waren die Blicke der Passanten nicht mehr feindlich, sondern belustigt. Elisabeth fuhlte sich so wohl. Nun wusste sie, wer ihren Bruder getotet hatte. Alle anderen Hypothesen hatten sich als unrichtig erwiesen. Nur kurz erinnerte sie sich daran, dass Ulrich Heynrici gesagt hatte, Ludwig sei in London einer schlimmen Sache auf die Spur gekommen. Bestimmt stand das auch in Zusammenhang mit Edwyn Palmer. Nun musste sie nur noch nach Koln zuruckkehren und hoffen, dass Palmer sich noch dort aufhielt.
Die Hauser aus Stein, die die Thames Street flankierten, schienen zu tanzen. Alles Dunkle, Unerklarliche war weit fort. Sie freute sich darauf, es ihrem Mann zu sagen.
Ihrem Mann…
Sie dachte an die vergangene Nacht zuruck, und ihre weingeschwangerte Hochstimmung schwand. Doch der schwere Rheinwein sorgte immer noch dafur, dass ihre Angste nicht zu stark wurden. Sollte er ihr doch drohen. Dann wurde sie es ihm heimzahlen. Er hatte sie entjungfert und damit den Ehekontrakt gebrochen. Sie hatte ihn in der Hand, denn die Tatsache ihrer Entehrung war ohne weiteres nachweisbar. Jede Hebamme konnte das.
Sie klopfte an das Portal des Stalhofes und wurde sofort eingelassen. Der junge, linkische Mann mit dem zu kurzen Wams beugte sich ihr vertraulich entgegen und flusterte: »Euer Mann sucht Euch schon den ganzen Tag. Er ist in einer schrecklichen Laune. Seht Euch vor. Ruft nach mir, wenn Ihr Hilfe braucht.«
Elisabeth kicherte und kam sich dabei sehr unfraulich vor. Sie schlenderte ohne Eile durch die Gange, Hallen und Korridore, bis sie vor der Tur zum gemeinsamen Gemach stand. Sie druckte die Klinke hinunter und betrat die Unterwelt.
»Du Hure, du saufst bei Tage und treibst dich herum! Ich schlage dich tot!«, schrie Heinrich und holte zum Schlag aus. Elisabeth glaubte nicht, dass er seine Drohung wahr machen wurde.
Der erste Schlag traf sie an der Wange, der zweite am Kinn. Sie taumelte zuruck, konnte einfach nicht glauben, was sie erlebte. Der korperliche Schmerz war viel geringer als der seelische. Sie weinte. Die Welt verschwamm vor ihren Augen.
»Du entkommst mir nicht. Du bist immer schon ein schreckliches Weib gewesen und hast mir meine Rechte verweigert, aber jetzt ist Schluss!« Er packte sie mit beiden Handen an den Schultern und schuttelte sie durch.
»Und du hast den Ehevertrag gebrochen. Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich dich um Hab und Gut bringen!«, schrie Elisabeth.
»Und wie willst du das anstellen?«, hohnte Heinrich. Seine feisten, blassen Wangen zitterten. »Bei wem willst du deine Rechte geltend machen? Dein Bruder ist tot, und seine Witwe hat mir nichts zu befehlen.« Er lachte bose.
»Ich werde mich an die Obrigkeit wenden. Oder ich suche mir einen neuen Vormund. Unser Vertrag ist schriftlich aufgesetzt und hat Rechtsgultigkeit.«
»Du willst mir etwas von Rechtsgultigkeit erzahlen! Nein, wie gelehrt ist doch meine Frau.« Er versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. »Ich brauche dein schabiges Geld nicht mehr. Mit den guten Geschaften, die ich hier in London gemacht habe, bin ich endlich unabhangig. Du bist mir nur noch ein Klotz am Bein. Ich habe meinen guten Wein zum Vierfachen des ublichen Preises verkauft. Ich mach jetzt meine Geschafte allein. Ich hab den Londonern die nachste Ernte schon aufgeschwatzt. Mein Wein ist der Beste und Su?este. Sogar ohne die Honigwaben. Die hab ich nach der Probe aus den Fassern genommen. Das reicht denen hier schon. Mir kann niemand das Wasser reichen – du schon gar nicht!« Eine weitere Ohrfeige traf Elisabeth.
Sie sah in sein zornverzerrtes Gesicht und wusste plotzlich, dass er bis zum Au?ersten gehen wurde. Der Hass in seinen Augen hatte kaum mehr etwas Menschliches. Und da kam ihr ein schrecklicher Gedanke.
Was war, wenn Anne Unrecht hatte? Wenn ihr Mann nicht Ludwigs Morder war? Wenn Heinrich ihn getotet hatte, um den Ehekontrakt gefahrlos brechen zu konnen? Aber warum hatte er sie dann nicht schon sofort nach Ludwigs Tod vergewaltigt? Warum hatte er sich so lange hinhalten lassen?
All diese Gedanken schossen ihr zwischen zwei Schlagen durch den Kopf. Sie spurte Blut auf der Lippe. Blut an der Nase. Blut tropfte auf ihr hochgeschlossenes Kleid und das Brusttuch. Heinrich legte die Hande um ihren Hals und druckte zu. Er war von Sinnen, als ob ein boser Geist in ihm steckte. »Wo bist du den ganzen Tag gewesen? Hast bei anderen Mannern gesteckt! Du Hure! Ich bringe dich um! Du Hexe!«
Elisabeth versuchte, seine Hande wegzudrucken, doch es gelang ihr nicht. Rote Nebel tanzten vor ihren Augen.
»Ich habe es satt, dich jeden Tag sehen zu mussen!«, spie er aus. »Du hast dich immer fur etwas Besseres gehalten. Ich hatte dich niemals genommen, wenn ich nicht dein Geld gebraucht hatte! Aber jetzt ist Schluss!«