da anderer Meinung, und als Priester war Andreas an seine Oberen und ihre Lehren gebunden.
Heynrici sah den Zwiespalt in Andreas’ Blick. »Ich habe mich in Eure Macht begeben. Geht behutsam mit ihr um.«
»Helft Ihr mir?«
»Wie immer Ihr wollt.«
»An wen habt Ihr das Buch gegeben?«
»An Ulrich Zell.«
»Wann?«
»Vor etwas weniger als einem Monat.«
»Vor einem Monat erst? Das… das war kurz vor Ludwigs Tod.«
»Es scheint so«, flusterte Heynrici schuldbewusst.
»Dann ist es also noch nicht so lange her, seit Ihr Euch von der schwarzen Kunst losgesagt habt?«
»Doch, doch«, beeilte sich der alte Mann zu sagen. »Dieses Buchlein hatte ich vollig ubersehen; es war hinter die ›Summa Theologica‹ des heiligen Thomas von Aquin gerutscht. Als ich es wieder fand, weil ich die Meinung des Aquinaten zur Natur der Engel erforschen wollte, habe ich es sofort ausgesondert und bei der ersten Gelegenheit an den Drucker gegeben, weil er schon seit einiger Zeit das ›De Officiis‹ hatte, das ich mir aber als armer Kuster nicht mehr leisten konnte. Da ich wei?, dass schwarzmagische Bucher immer gern gekauft werden und hohe Preise erzielen, habe ich mir erlaubt, dieses bose Werk sozusagen durch Tausch zu einem guten zu machen.«
»Damit habt Ihr die Schatten in der Welt weiter verbreitet.« Als wolle die Natur Andreas Recht geben, verdusterte sich plotzlich die Sonne, und ein starker Wind setzte ein und heulte um das Hauschen. »Ihr habt Gutes mit Bosem erkauft.«
»Tut das nicht jeder? Das habe ich damals als Ratsherr auch getan – wie alle meine Freunde, Ludwig eingeschlossen.« Er schlug sich gegen die Brust. »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.«
»Wisst Ihr noch etwas, das Ihr mir bisher verschwiegen habt?«, fragte Andreas.
Heynrici lachelte den jungen Geistlichen milde an. »Ich furchte, ich wei? vieles, was Ihr nicht wisst – und was Ihr nicht wissen wollt. Aber uber den Tod Eures Freundes habe ich Euch alles gesagt. Ich bin schon in Eurer Hand. Warum sollte ich Euch etwas vorenthalten?«
Andreas nickte und trat langsam einen Schritt zuruck. »Ich wei? nicht mehr, was ich glauben soll, aber Euch glaube ich. Ihr habt schon genug unter Eurem Wunsch nach Erkenntnis gelitten und seid in der Folge zu einem wahren Vorbild der Christenheit geworden. Ich halte mich an Christi Wort: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Wer bin ich sundiger Mensch, der uber Euch zu Gericht sitzen sollte? Gebt mir das Buch zuruck. Ich werde es vernichten, und niemand wird mehr auf den Gedanken kommen, Euch der Teufelsbundnerschaft zu verdachtigen.«
Ulrich Heynrici fiel vor Andreas auf die Knie und kusste ihm die Hand, wie es ein Priester bei einem Kardinal tut. Als er zu dem jungen Mann aufschaute, waren seine Augen wieder tranennass. »Ich stehe ewig in Eurer Schuld«, schluchzte er. »Ihr habt mit einem alten Sunder Erbarmen gehabt. Gott wird es Euch vergelten. Und in mir habt Ihr einen treuen Freund gefunden.«
»Steht auf, weiser Mann«, sagte Andreas mit leiser Stimme. Der alte Mann erhob sich und druckte dem Geistlichen beide Hande mit erstaunlicher Kraft.
»Kommt zu mir und sagt mir, was Ihr herausgefunden habt«, meinte Heynrici. »Oder besucht mich einfach nur, wenn Ihr mit jemandem reden wollt.«
Andreas lachelte. »Das werde ich tun, ehrwurdiger Vater.«
»Dieser Anrede bin ich nicht wurdig.« Er kusste Andreas auf die Wange. Der junge Geistliche nahm das Buch wieder an sich und verlie? das Kusterhauschen.
Der Himmel hatte sich verfinstert. Die Sonne war hinter dicken Wolken verschwunden. Sturmboen fuhren uber Melaten hinweg. Der Apfelschimmel, der neben der Kirche angebunden war, wieherte aufgeregt. In der Linde rauschte, knarrte und knarzte es machtig. Andreas schaute hoch in das Blattwerk des alten Baumes.
Dort schwankte ein Schatten. Ein abgebrochener Ast, der nur noch an einem Rindenstreifen hing? Andreas kniff die Augen zusammen. Der Ast hatte Arme und Beine.
Angefaulte Arme und Beine, Stumpfe.
Und sein Kopf hing in einer Schlinge, knapp oberhalb der niedrigsten Zweige.
SIEBZEHN
Das Bild des Toten verfolgte Andreas bis in den Schlaf. Er war rechtzeitig vor dem Schlie?en der Tore wieder in Koln angekommen und wusste kaum mehr, wie er den Weg von Melaten hinter sich gebracht hatte. Naturlich hatte er als Priester schon viele Sterbende und Tote gesehen, doch der Anblick des erhangten Leprosen hatte ihn uber alle Ma?en entsetzt. Auf sein Rufen war sofort Ulrich Heynrici in der Tur erschienen und hatte den Toten nicht minder erschrocken betrachtet. Er war auf die Knie gefallen und hatte ein Gebet fur den armen Verschiedenen gesprochen. Danach hatte er allein den Leichnam abgenommen, nachdem ihm der Pfortner eine Leiter gebracht hatte, und ihn in die Totenkammer getragen. Andreas bewunderte den Mut Heynricis, denn jede Beruhrung mit einem Leprakranken konnte den Tod bedeuten. Er verstand nicht, warum der heiligma?ige Mann so gro?e Angst vor der Inquisition hatte, wo er hier doch taglich sein Leben aufs Spiel setzte.
Auch im Traum nahm Heynrici den Toten ab, doch dann stand der Leprose plotzlich auf eigenen Beinen und grinste Andreas an. Heynrici und der Pfortner waren verschwunden; alles au?er dem Kranken war in Nebel und Dunkelheit versunken. Der Sieche hatte keine Zunge mehr. Als er den Mund weit aufsperrte, gahnte in seinem Schlund nur ein tiefes Loch. Trotzdem konnte er sprechen. »Suche den Toten bei den Lebenden«, sagte er. »Der Wein ist das Leben.« Er grinste. »Was soll das hei?en?«, fragte Andreas im Traum. »Nichts ist so, wie es scheint. Gut und Bose sind keine voneinander geschiedenen Elemente, sie haben sich seit Anbeginn der Zeit vermischt. Wie Wein und Wasser. Wein ist Wasser, und Wein ist Blut. Suche im Wasser, und suche im Blut. Glaube nie an das, was du siehst. Was du nicht sehen kannst, was verborgen ist, was sich verschworen hat, das hat Macht und ist gefahrlich. Glaube nicht, dass es voruber ist. Es hat noch nicht einmal begonnen.«
»Wovon redest du?«, fragte Andreas und wischte sich den Schwei? von der Stirn.
»Du siehst nur die Oberflache, doch darunter brodelt es. Hast du noch nicht bemerkt, dass sich seltsame Dinge ereignen?«
Andreas nickte.
Da zerplatzte das Traumbild des Leprosen, und Andreas erwachte schwei?gebadet.
Der Drucker Ulrich Zell wohnte erst seit einem Monat im Haus Lyskirchen am Filzengraben. Er war der Erste gewesen, der die Kunst des Drucks mit beweglichen Lettern nach Koln gebracht hatte, und war beim gro?en Meister Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, zu Mainz in die Lehre gegangen. Nun fuhrte er in Koln schon seit sieben Jahren sein Gewerbe aus, das von vielen Gelehrten als sehr bedenklich angesehen und nahezu als Zauberei betrachtet wurde. Noch nie war es moglich gewesen, Bucher so schnell zu vervielfaltigen und dadurch Wissen zu verbreiten. Der Siegeszug des gedruckten Buches schien unaufhaltsam zu sein.
Andreas hatte noch nie eine Druckerwerkstatt von innen gesehen und war sehr gespannt. Ihn freute es, dass sich das Wissen um die Allmacht Gottes nun noch schneller verbreiten konnte. Er stand vor dem spitzgiebeligen Steinhaus unweit des Rheins und schaute an der Sandsteinfassade hoch. Alle Fenster waren verglast, ein kleiner Erker schob sich neugierig wie eine schnuffelnde Nase aus der Mauer hervor. Hinter dem gro?en Portal ertonten aus dem Erdgeschoss hin und wieder polternde und knirschende Gerausche. Hier lag wohl die Werkstatt; die Wohnraume waren vermutlich uber die kleine Tur rechts neben dem Portal zu erreichen. Andreas klopfte mit der Faust gegen das Portal.
Er musste noch einmal klopfen, bis endlich jemand kam und die Tur offnete. Es war ein Junge von kaum zehn Jahren, der Andreas mit hellen, neugierigen Augen ansah. »Was wunscht Ihr?«
Durch den Turspalt hindurch konnte Andreas eine der beruhmten Druckerpressen sehen. Es war ein wahres Monstrum. Zwei Gesellen waren mit seltsamen Hebeln und Gegenstanden beschaftigt, und soeben fuhr eine Platte hinunter und schien etwas zu zerquetschen.