»Ich will Meister Ulrich Zell sprechen.«

»Der Meister ist sehr beschaftigt. Er setzt gerade die Lettern fur den neuen ›Liber de singularitate clericorum‹ des heiligen Augustinus. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Nein, ich muss ihn selbst sprechen.«

»Konnt Ihr in ein paar Tagen wieder kommen? Der Meister hat mir aufgetragen, niemanden zu ihm vorzulassen«, sagte der Junge mit hoher, aber fester Stimme, in der nicht eine Spur von Ehrfurcht vor dem Priesterrock lag.

Die Zeiten andern sich, dachte Andreas. Noch vor wenigen Jahren ware ein derart freches Verhalten unmoglich gewesen. Vor wenigen Jahren hatte es auch noch keine gedruckten Bucher gegeben. Die Zeichen fur den Anbruch einer neuen Zeit waren fur die Aufmerksamen uberall zu sehen. Oder war es der Anbruch der Apokalypse?

»Ich furchte, ich muss deinen Herrn personlich sprechen. Es ist sehr wichtig; es geht um weitaus mehr als nur um Bucher.«

»Nur? Wie konnt Ihr dieses Wort im Zusammenhang mit einem gedruckten Buch gebrauchen?«, versetzte ihm der Knabe. Andreas wusste nicht, ob er uber ihn lachen oder ihm zurnen sollte.

»Nun, es geht um ein Buch, eine Handschrift. Ab mit dir, fuhr mich zu deinem Herrn«, sagte er schlie?lich recht munter und lachelte den Jungen an. »Es sei denn, du willst dein Seelenheil aufs Spiel setzen.«

Der Junge lachelte zuruck; er schien Andreas’ Drohung nicht ernst zu nehmen. Aber er offnete das Portal und lie? den Geistlichen herein. Der Junge fuhrte ihn an der gro?en Presse vorbei, aus dem soeben ein frisch bedruckter Bogen gelost und auf einen Stapel gelegt wurde. Andreas fuhlte sich wie ein Zuschauer bei der Erschaffung einer neuen Welt. Noch vor wenigen Jahren ware es undenkbar gewesen, ein Buch so schnell zu vervielfaltigen.

Der junge Geselle fuhrte ihn an der Maschine vorbei zu einer Ecke des Raumes, in der ein hoch aufgeschossener Mann in einem schwarzfleckigen, zerschlissenen Wams und einer Hose, die in keinem besseren Zustand war, an einem gro?en Brett stand und Lettern aus einem Setzkasten vor ihm aneinander legte. Er drehte sich um; sein Blick war feurig und zornig. »Habe ich dir nicht gesagt, dass ich nicht gestort werden will – von niemandem?«, brauste er auf. Er hatte einen dichten Bart, Lachfaltchen um die Augen, die von einem wasserigen Blau waren, und eine sehr ausladende, spitze Nase. Beinahe ein Spiegelbild seines Hauses, dachte Andreas belustigt. Er stellte sich dem Drucker kurz vor und bat ihn, irgendwo ungestort mit ihm zu reden.

Zell wischte sich die Hande an einem vor Schmutz und Druckerschwarze starrenden Lappen ab und bedeutete seinem ungeladenen Gast mit einer knappen Handbewegung, ihm zu folgen. Durch eine kleine Tur fuhrte er ihn zu einem Treppenhaus und hinauf in die gute Stube des Hauses, in dem es aussah, als sei hier jahrelang weder aufgeraumt noch ausgefegt worden. Dabei wusste Andreas genau, dass Zell erst kurzlich hier eingezogen war. Zell scheuchte eine Katze von einem der abgeschabten Scherenstuhle und bedeutete Andreas, sich zu setzen. Dieser tat es widerwillig, nachdem er zuvor mit der Hand den grobsten Unrat fortgewischt hatte. Zell blieb vor ihm stehen.

»Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs?«

»Ich bewundere die neue Kunst«, meinte Andreas ausweichend.

»Da seid Ihr leider einer der wenigen aus Eurer Zunft«, erwiderte Zell. »Darf ich Euch etwas zu trinken anbieten?«

Andreas nickte, und Zell verlie? kurz das Zimmer. Der junge Geistliche sah sich rasch um. Schmucklos und unordentlich war es hier – und armlich. Das Haus musste sehr teuer gewesen sein, doch auf seine Einrichtung schien Zell keinen Wert zu legen. Dafur aber lagen Bucher herum – in losen Bogen und gebunden. Kostbarkeiten.

Zell kam mit einer dickbauchigen Hansekanne zuruck, in der roter Wein wie Blut schwappte. Andreas fuhlte sich an seinen Traum erinnert. Zell goss ihm einen Pokal ein, und Andreas hielt die reiche Flussigkeit gegen das Licht. Wie Blut.

»Ein ausgezeichneter Burgunder mit einer Prise Zimt, ein wenig Wacholder und Honig. Kostet nur, er wird Euch munden.«

Andreas nahm einen Schluck. In der Tat, ein herrlicher Geschmack. Wurzig, aromatisch, su? und belebend.

»Sonst habe ich fur Leute wie Euch eher den sooren Hunck aus dem Weinberg meines Freundes Petrus, neben Sankt Gereon. Ein Loffel Honig auf einen Schluck von diesem Wein, und schon kann man ihn trinken, wie ich immer sage. Aber ich glaube, ein Bucherliebhaber hat auch beim Wein einen ganz besonderen Geschmack und ein Anrecht auf das Beste. Aus welcher Pfarrei kommt Ihr?«

»Sankt Kolumba, ich bin dort Kaplan.«

»Unter Pfarrer Hulshout, nicht wahr? Ich habe gehort, dass er sich vor kurzem auch ein Buch gekauft hat – bei meinem geschatzten Freund Kolhoff. Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung auf die Verbreitung des Wissens.«

»Was mich angeht, so bin ich schon seit langem ein Anhanger der neuen Kunst«, beeilte sich Andreas zu sagen und nahm noch einen Schluck.

»Das freut mich zu horen«, meinte Zell kuhl und sah Andreas von oben herab neugierig an. »Was fuhrt Euch zu mir? Die Liebe zu den Buchern?«

»Ja – in gewisser Weise.« Andreas sturzte den Wein hinunter und hielt Zell den Pokal entgegen. »Ein ausgezeichneter Tropfen«, sagte er, durch den Roten mutiger geworden. »Woher habt Ihr ihn bezogen?«

Zell hob die Brauen und goss nach. »Vom Leyendecker’schen Kontor. Dort erhalt man die besten Weine der Stadt. Den gro?ten Umsatz macht das Haus Leyendecker wohl mit den lieblichen Weinen von Rhein und Mosel, doch man hat dort auch ausgezeichnete Franzosen im Angebot.«

»Habt Ihr gehort, was Ludwig Leyendecker zugesto?en ist?«, fragte Andreas.

»Zugesto?en ist wohl das falsche Wort«, meinte Zell und trank ebenfalls seinen Pokal leer, fullte sich aber nicht nach. »Es ist schrecklich. Ich habe Leyendecker nur wenige Male gesehen, doch mir schien er ein ruhiger, freundlicher und besonnener Mann zu sein. Nun, man kann sich tauschen, und manchmal brodelt etwas unter der Oberflache, das niemand sieht oder bemerkt.«

»Wie meint Ihr das?«

»Ganz allgemein.« Zell sah Andreas scharf an. »Darf ich jetzt den Grund Eures Besuches erfahren?«

Andreas zog das kleine Zauberbuch hervor und hielt es Zell entgegen. Der Drucker wurde blass. Offenbar hatte er den Band sofort erkannt. »Was soll ich mit diesem Buch anfangen?«, fragte er unwirsch.

»Ich glaube, es hat Euch einmal gehort«, meinte Andreas.

»Ich handle nur mit gedruckten Buchern.«

»Ich habe anderes gehort.«

»Und wenn schon. Ich erinnere mich nicht an dieses Buch.«

»Schlagt es auf und lest ein wenig darin«, meinte Andreas und stutzte die Hande auf den Oberschenkeln ab. Neugierig sah er Zell an.

Dieser nahm das Buch mit spitzen Fingern entgegen und blatterte darin herum. Er rausperte sich.

»Erinnert Ihr Euch daran?«

»Ich habe es nie gelesen.«

»Das glaube ich Euch sogar, aber Ihr habt es von Ulrich Heynrici, dessen Ruf sicherlich auch zu Euch gedrungen ist, im Tausch gegen ein Exemplar des ›De Officiis‹ genommen und dann weiterverkauft.«

Es war Zell deutlich anzusehen, was er gerade dachte: Soll ich es zugeben und die Gefahr eingehen, vor das bischofliche Inquisitionsgericht geladen zu werden? Oder soll ich es abstreiten? Andreas seufzte. Wie oft mochte die Angst vor der Inquisition die Wahrheit bereits behindert haben? Konnte man mit Drohungen uberhaupt zum Recht kommen? Andreas entschied sich, wie bei Heynrici zu verfahren. Da er sich schon einmal uber seine Pflicht dem Bischof gegenuber hinweggesetzt hatte, fiel es ihm nicht mehr so schwer. »Ihr braucht keine Angst zu haben. Niemand wird je erfahren, dass Ihr dieses Buch verkauft habt.«

Zell sah ihn misstrauisch an und klappte das Buch wieder zu. Er stand wie angewurzelt da; sein Gesicht war eine einzige Frage.

Andreas fuhr fort: »Ich werde Euch nicht anzeigen. Ich bin kein Hexenschnuffler und kein Handlanger der Inquisition. Mir geht es nur darum, Licht in das Dunkel um den Tod von Ludwig Leyendecker zu bringen.«

»Steht sein Tod in Zusammenhang mit diesem Buch?«, fragte Zell argwohnisch und warf einen zweifelnden Blick auf den kleinen Band in seiner Hand.

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