»Es ware moglich. Angeblich hat er die schwerste Sunde begangen, die ein Mensch begehen kann.«

»Selbstmord?«, fragte Zell und schaute aus dem Fenster. Er klang erschuttert. »Das… das wusste ich nicht.«

»Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er als Grund fur seinen Selbstmord angegeben hat, er habe den Teufel beschworen und daruber tiefste Reue empfunden.«

»Hatte er Erfolg?«, fragte Zell rasch.

»Mit der Beschworung? Ich wei? es nicht. Um ehrlich zu sein, wei? ich gar nichts mehr. Aber ich bezweifle, dass dies der Grund fur seine schreckliche Tat war – wenn es uberhaupt seine eigene Tat war.«

»Wollt Ihr damit etwa andeuten, dass er – ermordet wurde?«

»Ich konnte mir vorstellen, dass ich der Wahrheit einen Schritt naher komme, wenn ich wei?, wer ihm dieses Buch untergeschoben hat, denn er selbst wird es wohl kaum bei Euch gekauft haben.« Er sah Zell auffordernd an. Dieser drehte sich vom Fenster weg und schaute an dem Geistlichen vorbei in eine imaginare Ferne.

Zell holte tief Luft, als wolle er etwas sagen. Er offnete den Mund, schloss ihn wieder. Dann endlich schaute er dem Geistlichen in die Augen. »Ich muss Euch enttauschen. Dieses Buch hat Ludwig Leyendecker vor mehr als einem Monat bei mir gekauft.«

ACHTZEHN

Anton Lautensack begleitete Elisabeth auf dem Weg zu ihrer neuen Freundin und Schwester im Geiste, Anne Palmer. Nun erntete sie auf der Stra?e keine bosen oder abschatzigen Blicke mehr. Elisabeth musste sich ein Lacheln verkneifen. Sobald ein Milchgesicht von einem mannlichen Wesen neben einer Frau herlief, galt sie als ehrbar, aber wehe, wenn sie allein unterwegs war. Waren Frauen denn keine Menschen? Manche Theologen erdreisteten sich sogar, die Frage zu stellen, ob denn Frauen eine Seele haben. Vermutlich versuchten sie, dem von ihnen verabscheuten Geschlecht das abzusprechen, was ihnen selbst bereits vor langer Zeit abhanden gekommen war.

Sogar der Larm in der Thames Street schien heute gedampfter zu sein. Elisabeth warf verstohlene Seitenblicke auf ihren jugendlichen Retter. Ihm wuchs noch kein Bart, und er wirkte seltsam fremd in dem gefaltelten, zu kurzen Wams und mit dem schmucken Barett auf dem langhaarigen, leicht eiformigen Kopf. Sein Gang war genauso linkisch wie seine Haltung, und doch wurde er als Mann akzeptiert. Manche der kleinen Stra?enhandler gru?ten ihn sogar unterwurfig. Er nickte hochstens einmal kurz – nicht aus Herablassung, sondern weil es ihm offenbar peinlich war, fur etwas Besseres gehalten zu werden. Elisabeth war sehr erstaunt daruber, dass dieser Junge ihren Mann niedergestreckt hatte. Anscheinend hatte er sich in sie verliebt.

»Arbeitet Ihr auch im Weinhandel?«, fragte sie ihn, wahrend sie am Kirchhof von All Hallows vorbeigingen.

Anton rausperte sich und sagte nur: »Ja.«

»In welchem Kontor seid Ihr beschaftigt?«

»In dem von… von Hermann Langenhag.«

»Habt Ihr meinen Bruder gekannt?«

Anton Lautensack sah Elisabeth innig an. »Ludwig Leyendecker, nicht wahr?« Anton blieb mitten auf der Stra?e stehen. Eine Taube erhob sich mit lautem Flugelschlag aus einem der Kirchhofbaume und flatterte dicht uber ihren Kopfen davon. »Ich habe davon gehort. Wir alle haben davon gehort. Es ist schrecklich«, flusterte er. »Hat er wirklich mit dem Teufel…?«

Elisabeth warf ihm einen vernichtenden Blick zu, unter dem der arme Anton zusammenzuschrumpfen schien. »Ich bin hier, um das Gegenteil zu beweisen, und es scheint mir gelungen zu sein, auch wenn die Auflosung anders war, als ich erwartet hatte.«

Anton schaute sie mit gro?en Augen an. »Ihr jagt einem Morder nach?«

Elisabeth lachelte angesichts seines Erstaunens. »So kann man es nennen.«

»Darf ich Euch dabei helfen?«

»Versprecht Euch nicht zu viel.«

»Was sollte ich mir denn versprechen?« Anton wurde rot wie die Sonne am Abend.

Elisabeth ging mit schnellen Schritten weiter. Anton bemuhte sich, nachzukommen. »Es ist nur so…, nur, dass…«, stammelte er.

Inzwischen hatte Elisabeth die Tordurchfahrt zu Palmers Kontor und Wohnhaus erreicht, trat in das Dunkel und auf den Hof und lief die wenigen Stufen zum Portal hoch. »Ich danke Euch, dass Ihr mich hergebracht habt«, sagte sie zu Anton Lautensack, der am Fu? der Treppe stehen geblieben war. »Ihr konnt jetzt zuruckgehen.«

»Nein, das kann ich nicht.«

Elisabeth sah ihn fragend an. »Warum nicht?«

»Ich habe Euch angeschwindelt. Ich arbeite fur Euren Gemahl, und ich glaube nicht, dass es klug von mir ware, in den Stalhof zuruckzukehren.« Er richtete den Blick auf den Boden. »Ich habe mir wohl jede Aussicht genommen, einmal ein erfolgreicher Kaufmann zu werden. Aber das wollte ich auch nie. Ich wollte gerne Stadtmusikus werden.«

Elisabeth lachelte ihn an. »Dann kommt mit hinein.«

Eine Magd mit Buckel fuhrte die beiden zu Anne Palmer in die Schreibstube des Kontors. Die junge Frau sa? uber dicken Stapeln von Papieren und schrieb eifrig mit einem langen Gansekiel, den sie immer wieder in das kleine Tintenfass vor ihr eintauchte. Als sie die beiden Besucher bemerkte, sprang sie auf und kam ihnen entgegen. Elisabeth und Anne umarmten sich herzlich, dann sah Anne ihren Begleiter und bedachte ihn mit einem fragenden Blick. Elisabeth erzahlte von dem zweiten schrecklichen Erlebnis mit Heinrich und lobte ihren jugendlichen Retter. Anton wurde wieder einmal rot und verneigte sich vor Anne.

»Was wollt Ihr jetzt tun?«, fragte der junge Kaufmann wider Willen die Frauen, nachdem sie sich auf die beiden einzigen Stuhle im Raum gesetzt hatten und er stehen bleiben musste. Anne berichtete ihm von ihrer Uberzeugung, dass ihr Gatte Ludwig aus Eifersucht ermordet habe, und von ihrer beider Wunsch, nach Koln zu reisen, da Edwyn Palmer dort geschaftlich langere Zeit bleiben wolle.

»Ihr wollt allein nach Koln reisen?«, wunderte sich Anton Lautensack.

»Warum nicht?«, hielt ihm Anne entgegen und lachelte ihn an. Elisabeth bemerkte, dass ihre Freundin diesen kaum den Kinderjahren entwachsenen Knaben anziehend fand. Anton jedoch hatte nur Augen fur Elisabeth.

»Konnte es Schwierigkeiten geben?«, fragte Elisabeth den jungen Mann.

»Jeder Kapitan wird Euch fragen, woher Ihr kommt. Allein reisende Damen haben einen, ah, zweifelhaften Ruf. Au?erdem waret Ihr den Nachstellungen der Matrosen hilflos ausgeliefert. Und wie wollt Ihr uberhaupt an ein Schiff kommen? Im Stalhof konnt Ihr nicht an Bord gehen, denn Heinrich wird Euch suchen lassen. Und ich habe keine Ahnung, welches Schiff von wo an der Themse in Richtung Kontinent ablegt. Wie Ihr vielleicht wisst, gibt es gro?e Differenzen zwischen der Insel und der Hanse. Es sind schwierige Zeiten.«

Elisabeth und Anne sahen sich an. »Sollen wir warten, bis dein Mann zuruckkommt?«, fragte Elisabeth.

»Das kann noch Monate dauern«, gab Anne zuruck.

Monate! Elisabeth stellte fest, dass sie bereits jetzt Heimweh nach Koln hatte, auch wenn das Leben dort fur sie nicht gerade einfach sein wurde, denn von nun an musste sie Heinrich aus dem Weg gehen und auf eine Moglichkeit sinnen, wie sie ihren Lebensunterhalt erwirtschaften konnte, falls es ihr nicht gelingen sollte, die Mitgift von ihrem Gatten zuruckzufordern. Erst jetzt begriff sie, dass heute ihr ganzes Leben zusammengebrochen war. Einzig der Gedanke daran, Ludwigs Morder zu fassen, gab ihr Hoffnung.

Und da war noch Andreas…

»Ich will nicht warten, bis Edwyn nach London zuruckkommt«, sagte Anne. »Ich will von hier verschwunden sein, bevor er mir das Leben in dieser schrecklichen Stadt wieder zur Holle macht.«

Anton sah sie mitfuhlend an. »Ihr musst ein schlimmes Leben gefuhrt haben«, sagte er zu ihr, wahrend er in dem kleinen Kontorzimmer auf und ab ging.

»Manchmal war es sehr aufregend, aber meistens war es schrecklich«, pflichtete Anne ihm bei. »Erst Ludwig Leyendecker hat mir wieder Freude am Leben gebracht. Er sagte, dass auch er eine ungluckliche Ehe fuhre, obwohl er naturlich unter keinerlei Gewalttatigkeiten zu leiden hatte. Aber er suchte Zartlichkeit, und die bekam er bei seiner Frau nicht.«

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