»Ja«, sagte Stillingfleet.
Hercule Poirot schuttelte aber den Kopf.
»Im Gegenteil«, behauptete er. »Es handelt sich um einen Mord. Einen ungewohnlichen und sehr schlau geplanten Mord.«
Wiederum beugte er sich vor und klopfte mit dem Finger auf den Tisch, wahrend seine Augen vor Erregung grun schimmerten.
»Warum gestattete mir Mr. Farley nicht, an jenem Abend sein Zimmer zu betreten? Was war darin, das ich um keinen Preis sehen durfte? Ich glaube, liebe Freunde, es war -Benedict Farley selber!«
Er lachelte die perplexen Gesichter an.
»Ja, ja, es ist kein Unsinn, den ich daherrede. Warum konnte Mr. Farley, mit dem ich gesprochen hatte, den Unterschied zwischen zwei vollig unahnlichen Briefen nicht erkennen? Weil er, liebe Freunde, ein Mann mit normalem Sehvermogen war, der sehr starke Glaser trug. Solche Glaser machen einen Menschen mit normaler Sehfahigkeit praktisch blind. Stimmt das nicht, Doktor?«
Stillingfleet murmelte: »Gewi? - da haben Sie recht.«
»Warum hatte ich bei der Unterredung mit ihm das Gefuhl, da? ich es mit einem Scharlatan zu tun hatte, mit einem Schauspieler, der eine Rolle spielte? Betrachten wir zunachst die Szenerie - den dammrigen Raum und die mit einem grunen Schirm bedeckte Lampe, deren grelles Licht von der Gestalt im Sessel abgewandt und dem Besucher zugekehrt ist. Was sah ich denn schon? Den beruhmten Flickenschlafrock, die Hakennase - gefalscht mit der so nutzlichen Substanz Paraffin - den wei?en Haarschopf, die stark vergro?ernden Glaser, die die Augen versteckten. Was fur ein Beweis existiert, da? Mr. Farley jemals einen Traum gehabt hat? Nur die Geschichte, die mir erzahlt wurde, und
Und so kommen wir zu dem heutigen Nachmittag. Die gunstige Gelegenheit, auf die Mr. Cornworthy gewartet hat, bietet sich endlich. In der Diele sitzen zwei Zeugen, die beschworen konnen, da? niemand Benedict Farleys Zimmer betreten oder verlassen hat. Cornworthy wartet, bis sich ein besonders schwerer Verkehrsstrom vorbeiwalzt. Dann lehnt er sich zum Fenster hinaus und halt mit der Faulenzerzange, die er vom Schreibtisch nebenan entwendet hat, einen Gegenstand an Farleys Fenster. Benedict Farley tritt daraufhin ans Fenster, und Cornworthy la?t die Zange zuruckschnellen. Wahrend Farley sich hinauslehnt und die Lastwagen vor dem Haus vorbeidonnern, erschie?t ihn Cornworthy mit einem Revolver, den er in Bereitschaft hat. Das Fenster geht ja nach der Seite, und gegenuber befindet sich eine blinde Wand. Es gibt also keinen Zeugen fur das Verbrechen. Cornworthy wartet uber eine halbe Stunde. Dann nimmt er einen Sto? Papiere, unter denen er die Faulenzerzange und den Revolver verbirgt, geht hinaus in die Diele und dann in den Raum nebenan. Dort legt er rasch die Faulenzerzange wieder auf den Schreibtisch und den Revolver neben den Toten, nachdem er dessen Finger auf den Griff gepre?t hat, und eilt nach drau?en mit der Nachricht von Mr. Farleys >Selbstmord<.
Er sorgt dafur, da? der an mich gerichtete Brief gefunden wird und ich mit meiner Geschichte erscheine - der Geschichte, die ich aus Mr. Farleys eigenem Mund gehort habe, der Geschichte von seinem ungewohnlichen Traum und seinem seltsamen Drang, sich zu toten! Ein paar leichtglaubige Menschen werden die Hypnose-Theorie diskutieren - aber im wesentlichen wird ohne jeden Zweifel bestatigt, da? es tatsachlich Benedict Farleys eigene Hand war, die den Revolver hielt.«
Hercule Poirots Augen richteten sich auf die Witwe, und er sah mit Befriedigung die Besturzung, die fahle Blasse, die blinde Furcht ... »Und in absehbarer Zeit«, schlo? er sanft, »ware das Happy-End erreicht worden. Eine Viertelmillion Pfund und zwei Herzen, die wie eines schlagen .«
Dr. John Stillingfleet und Hercule Poirot gingen an der Seite von Northway House entlang. Zu ihrer Rechten erhob sich die ragende Fabrikwand, und links uber ihnen befanden sich die Fenster von Benedict Farley und Hugo Cornworthy. Hercule Poirot blieb plotzlich stehen und hob einen Gegenstand auf - eine ausgestopfte schwarze Katze.
»Warum in aller Welt ist Cornworthy denn nicht nach drau?en geeilt und hat das Ding aufgehoben, nachdem er es hatte fallen lassen?«
»Wie konnte er das tun? Das hatte bestimmt Verdacht erregt. Und was denkt sich schon jemand dabei, wenn er diese Katze findet? Hochstens, da? ein Kind hier gespielt und sie verloren hat.«
»Ja«, seufzte Stillingfleet, »das hatte ein gewohnlicher Sterblicher wahrscheinlich angenommen. Aber nicht der gute alte Hercule! Wissen Sie, bis zum allerletzten Augenblick habe ich angenommen, da? Sie irgendeine hochtrabende Theorie von einem psychologischen, >suggerierten< Mord entwickeln wurden. Ich mochte wetten, da? die beiden das auch vermutet haben! Eine garstige Nummer, diese Farley! Meine Gute, wie sie zusammensackte! Cornworthy hatte sich vielleicht noch aus der Affare gezogen, wenn sie nicht diesen hysterischen Anfall bekommen und versucht hatte, Ihre Schonheit mit ihren Krallen zu verschandeln. Nur mit Muhe und Not habe ich Sie aus ihren Klauen retten konnen.«
Nach einer kleinen Pause fuhr er fort:
»Die Tochter gefallt mir eigentlich ganz gut. Schneid, wissen Sie, und Grips. Wurde man mich wohl fur einen Glucksjager halten, wenn ich mein Heil bei ihr versuchte?«
»Da kommen Sie zu spat, guter Freund. Es ist schon ein Anwarter da. Der Tod ihres Vaters hat ihr den Weg zum Gluck geebnet.«
»Richtig gesehen, hatte sie ein ziemlich gutes Motiv, um den unangenehmen Pater familias abzuknallen.«
»Motiv und Gelegenheit genugen nicht«, entgegnete Poirot. »Es mu? auch die verbrecherische Anlage vorhanden sein.«
»Werden Sie jemals ein Verbrechen begehen, Poirot?« fragte Stillingfleet. »Ich mochte wetten, da? Sie ungestraft davonkamen. Aber es ware tatsachlich zu leicht fur Sie - aus diesem Grunde schon ist es zu verwerfen; denn es ware entschieden zu unsportlich.«
»Das«, meinte Poirot, »ist eine typisch englische Idee.«
»Auf Wiedersehen, Liebling!«
»Auf Wiedersehen, mein Schatz!«
Alix Martin lehnte sich uber das schmale Gartentor und sah ihrem Mann nach, der den Weg zum Dorf hinunterging. Kleiner und kleiner wurde die Gestalt, jetzt war sie in einer Kurve verschwunden, aber Alix verharrte immer noch in derselben Stellung. In Gedanken versunken, strich sie eine Locke ihres dichten braunen Haares aus ihrem Gesicht. Ihre Augen blickten traumerisch in die Ferne.
Alix Martin war nicht schon, strenggenommen nicht einmal hubsch. Ihr Gesicht war das einer Frau, die nicht mehr in ihrer ersten Jugend ist. Trotzdem war es strahlend und weich, und ihre fruheren Kollegen aus dem Buro hatten sie wahrscheinlich kaum wiedererkannt.
Miss Alix King war eine ordentliche, geschaftstuchtige junge Frau gewesen, etwas brusk in ihrem Benehmen, aber sie stand offensichtlich mit beiden Fu?en auf der Erde.
Alix war durch eine harte Schule gegangen. Funfzehn Jahre lang, von ihrem achtzehnten Lebensjahr, bis sie dreiunddrei?ig war, hatte sie fur sich selbst gesorgt, sieben Jahre davon auch noch fur ihre kranke Mutter. Den Unterhalt hatte sie durch ihre Arbeit als Stenotypistin verdient. Dieser Existenzkampf hatte die weichen Linien ihres Gesichtes gehartet.
Sicher, es hatte auch Liebe gegeben - so eine Art. Dick Windyford, ein Buroangestellter. Ohne es sich je anmerken zu lassen, hatte Alix naturlich gewu?t, was er fur sie empfand. Nach au?en hin waren sie Freunde gewesen, mehr nicht. Mit seinem sparlichen Gehalt konnte Dick im Moment noch nicht ans Heiraten denken. Er