Felswand, die beinahe vier Kilometer hinab zur Avenue fuhrte.
Er stie? einen angstvollen Wieherlaut aus, woraufhin die anderen rasch, aber vorsichtig herankamen, und es gelang ihnen, ihn von der Kante zuruckzuziehen und selbst auch hinauszuschauen.
Man konnte die Avenue kaum erkennen; Wolken, Nebel und Fels behinderten die Sicht, aber da war sie, tief, tief unten, stellenweise erkennbar. Man konnte sie nur deshalb wahrnehmen, weil sie zu sein schien, was in der Natur praktisch kaum vorkam — vollig gerade, eine haarfeine, gerade Linie, nur mit den scharfen Augen eines Pegasus von hier aus uberhaupt wahrnehmbar.
Aber weit im Norden, vielleicht uber den Horizont herauflugend, konnten sie ein schwarzes Band sehen, das sich von Osten nach Westen dehnte, so weit das Auge reichte. Die Aquatorbarriere, der Zugang zum Schacht an den Avenuen, die feste, undurchdringliche Mauer, die den fremdartigen Norden vom ebenso fremdartigen Suden schied.
»Konnen Sie in diese Lucke hineinfliegen?« fragte sie der Agitar.
Brazil und Mavra schauten hinaus, sahen den Wind und die Luftstromungen, ma?en die schmalsten Punkte der Lucke mit dem unbeirrbaren Sinn der fliegenden Pferde und schuttelten fast gleichzeitig die Kopfe.
»Ausgeschlossen«, erklarte Brazil durch den Sprecher. »Die Luftstromungen sind dort sehr gefahrlich, das Tal ist an manchen Stellen zu schmal. Wir mussen hier laufen, soviel wir konnen, und versuchen, einen Weg nach unten zu finden.«
Mavra nickte.
»Ich bezweifle, ob irgendein fliegendes Wesen in der Luft dort in dem Pa? zurechtkommt.«
»Aber wir sind fur jeden hier oben lohnende Zielscheiben«, erklarte Brazil dumpf. »Und es ist aus, wenn es hier Wesen gibt, die in dieser Hohe fliegen konnen.«
Sie begannen zu marschieren.
Es ging nicht leicht, und man mu?te oft Hindernisse umgehen oder weite Umwege machen, um auf Hohe der Avenue zu bleiben. Sie kamen nur langsam voran und verbrachten eine kalte Nacht auf dem Berg.
Am nachsten Morgen war es ein wenig besser. Die Temperatur lag weit unter dem Nullpunkt, und sie genossen eine herrliche Aussicht, als die Wolken unter ihnen fast alles verdeckten, seien es Senken, Taler oder Kare, so da? nur die Spitzen der hochsten Gipfel in eine grelle, blendende Sonne ragten. Hatte sich das Fliegen in dieser Hohe nicht wegen Sauerstoffmangel verboten, ware es jetzt auch schon deshalb unmoglich gewesen, weil es praktisch keinen sicheren Landeplatz gab.
Der Gedemondaner ging weiter zu Fu? voraus, der Agitar, dick vermummt, ritt auf Brazil. Das zottige Wesen schien von Hohe und Kalte uberhaupt nichts zu spuren und bewaltigte den gefahrlichen Weg mit leichtfu?iger Sicherheit.
Trotzdem geschah das nicht auf Kosten der Vorsicht, weil man sonst hier uber den Wolken verloren gewesen ware. Man kam noch langsamer voran als am Vortag. Mittags schatzte Mavra, da? sie nur wenige Kilometer zuruckgelegt hatten; die schwarze Barriere im Norden war nicht nahergeruckt, und sie hatten kaum die nachste Reihe von Gipfeln erreicht, die aus den Wolken herausstachen. Brazil war sogar noch pessimistischer gestimmt; er begann sich zu fragen, ob sie es uberhaupt wurden schaffen konnen. Es gab hier oben nichts zu essen, und der Hunger marterte ihn. Das dumme war, da? ihm alle Richtungen gleich schlecht vorkamen. Es mochte in diesem Augenblick nicht einmal mehr die Moglichkeit geben, den Plan zu streichen.
Gegen Abend fuhlten sie sich alle bedruckt und niedergeschlagen. Sie reihten sich auf, um miteinander sprechen zu konnen, aber es gab eigentlich nicht viel zu sagen. Alle waren von ihren dusteren Gedanken beherrscht.
Ich habe versagt, schien jeder zu sich selbst oder zu den anderen zu sagen; wir haben versagt. Es ist uns gelungen, alles zu ubertolpeln, zu uberwinden oder niederzukampfen, was die Sechseck-Welt uns entgegengeworfen hat, aber jetzt sterben wir, Opfer nicht von Armeen oder feindlichen Planen, sondern der Natur.
Es wurde dunkel, und sie schlugen fur eine weitere einsame, sturmische, kalte Nacht ohne Nahrung und nun auch ohne gro?e Hoffnung ihr Lager auf.
»Wir haben alles versucht«, versuchte Brazil die anderen zu trosten, obwohl er selbst eher Trost brauchte, als ihn spenden zu konnen. »Wir machen weiter, solange es geht, und dann ist eben Schlu?.«
»Ich sehe nur einen Ausweg«, erklarte Mavra. »Morgen in aller Fruhe mussen wir, solange wir noch die Kraft haben, versuchen, in die Schlucht hinunterzufliegen.«
»Wie breit ist eine Avenue?« fragte Prola sorgenvoll.
Brazil uberlegte.
»Drei?ig Meter ungefahr«, erwiderte er. »Die Schlucht ist naturlich etwas breiter, aber wir wissen nicht, wie weit wir segeln und welchen Engstellen wir ausweichen mussen.«
»Unsere Flugelspannweite betragt ungefahr acht oder neun Meter«, sagte Mavra. »Sehr manovrierfahig sind wir damit nicht — und bei den gefahrlichen Auf- und Fallwinden und den Wolken…«
»Es war
»Also morgen gegen Mittag«, sagte sie resigniert, »wenn wir ein bi?chen Sonne haben.«
Sie schliefen in dieser Nacht noch unruhiger. Als der erste von ihnen erwachte und sich umschaute, wurden die Hoffnungen noch mehr gedampft. Die Wolken waren hoher geklettert; die ganze Welt war jetzt ein Meer von wirbelndem Wei?, in allen Richtungen.
Sie a?en ein bi?chen Schnee und blieben sitzen, unfahig, sich zu bewegen, bis die Sonne oder der Wind den Wolkennebel verjagte.
»In der Nahe von Avenuen ist das oft so«, sagte Brazil. »Ahnliche Bedingungen entstehen, wenn zwei jahreszeitlich vollig verschiedene Sechsecke aneinandergrenzen, und da drau?en ist naturlich eine Grenze, eine mit einem drei?ig Meter breiten Streifen dazwischen, der Wind und Wetter aus beiden Sechsecken ausgesetzt ist.«
Sie warteten fast den ganzen Vormittag, aber der Nebel wollte sich nicht verziehen. Brazil winkte schlie?lich dem Gedemondaner, er moge herankommen und sich ›dazwischenschalten‹, wie er das bezeichnete.
»Mavra — woran haben Sie gedacht?« fragte er leise, um sie abzulenken.
Sie lachelte schief.
»An andere Gegenden. An andere Leute«, erwiderte sie. »Mochte wissen, wie die Schlacht ausgegangen ist. Mochte wissen, wer gewonnen hat. Und ob es uberhaupt noch ins Gewicht fallt. Mochte wissen, ob sie sich auf die leere Hulle von Korper gesturzt haben, der zuruckgeblieben war, oder ob sie alle irgendwo aufmarschiert sind und aufeinander einschlagen. Es ware schon zu wissen, was geschehen ist, bevor ich…«
»Sterbe?« erganzte er. »Haben Sie wirklich Angst davor?«
»Ja, naturlich«, erwiderte sie. »Ich bin nicht wie Sie, Brazil. Ich glaube, keiner ist das. Ich mochte dieses neue Universum sehen.«
Er zogerte kurz, dann sagte er:»Nun, das verrat mir etwas uber Sie, woruber ich mir den Kopf zerbrochen habe.« Er ging nicht weiter darauf ein, aber fur ihn klarte das eine lange, strittige Frage. Er fragte sich uberlegt, jedenfalls bis zu diesem Augenblick, ob sie in ihrem Dillianer-Dasein glucklich gewesen war oder sich nach Gluck gesehnt hatte. Asams Verrat mu?te naturlich vieles davon zerstort haben, aber nur im Verhaltnis zwischen den beiden. Es ware jedoch nicht fair gewesen, jemandem solche Dinge anzutun, wie Brazil das tat, wenn der Betreffende in einem anderen Dasein glucklicher gewesen ware.
Es war so oder so nicht fair, das wu?te er, aber sie wurde es nicht glauben, bis sie es selbst erlebte.
Der Gedemondaner unterbrach den Kontakt.
»Der Nebel lichtet sich«, sagte er.
Sie schauten sich um und stellten fest, da? das zutraf. Die Sonne war jetzt sichtbar, ungefahr ein Viertel des Weges am Himmel hinaufgekommen, und sie loste mit ihren Strahlen die dunnen, in dieser Hohe eigentlich seltenen Wolken auf.
»Ich glaube, ich sehe einen Gipfel!« rief Prola aufgeregt. »Und da noch einen! Ja! Ich glaube, es klart auf!«