»Dafur gibt es in der Geschichte meines Volkes einige Beispiele«, gab Ortega zuruck. »In der Geschichte meiner Art — und auch der von Mavra und Nate, glaube ich. Nicht die schlappen, roboterhaften Idioten der Kom- Welten, die Sie gekannt haben. Nein, diejenigen, die mit Feuersteinen in Hohlen anfingen und ein interstellares Reich aufbauten, bevor es mit ihnen zu Ende ging. Die Geschichtsbucher waren voll davon, auch wenn man das heute vermutlich nicht mehr lehrt. Sechshundert, so hie? es, hatten einen Pa?, der breiter war als dieser hier, tagelang gegen eine Armee von mehr als funftausend Mann gehalten. Eine andere Gruppe hielt eine Festung mit weniger als zweihundert Leuten gegen eine gutausgebildete Armee von Tausenden mehr als zehn Tage lang. Wir brauchen nur zwei. Es gibt viele solche Geschichten; unsere Bucher waren voll davon. Ich nehme an, die Geschichte jeder Rasse, die stark genug war, auf einer feindseligen Welt eine Zivilisation aufzubauen, kennt sie.«

Marquoz nickte.

»Es gibt ein paar solche Beispiele in der Geschichte der Chugach«, gab er zu. »Aber sagen Sie, was ist aus denen geworden, die den Pa? hielten, nachdem ihre Frist abgelaufen war? Was aus den Leuten in der alten Festung nach den zehn Tagen?«

Ortega grinste.

»Dasselbe wie aus den Chugach in Ihren Geschichten, nehme ich an.«

»Das hatte ich befurchtet«, meinte Marquoz seufzend. »Wir werden also alle sterben, bis das vorbei ist?«

»Drei?ig zu eins, Marquoz«, gab der Schlangenmann zuruck. »Ich glaube, das Terrain verringert das Verhaltnis auf, sagen wir, funf zu eins. Nur ein paar Hundert von ihnen werden schlie?lich durchkommen, aber schaffen werden sie es. Allerdings zu spat, um Nate aufzuhalten, wenn wir es richtig machen. Aber sagen Sie, Marquoz, warum sind Sie hier? Warum nicht bei ihnen? Sie konnten mit ihnen in den Schacht gehen, wenn Sie wollten, Unsterblichkeit erlangen oder auch irgend etwas anderes, das Sie sich wunschen. Ich glaube, bei Ihnen wurde er es tun — es ist eine andere Situation als damals. Er hat Ihnen das Angebot gemacht, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Marquoz. »Das hat er.«

»Warum bleiben Sie dann hier in einem einsamen Pa? auf einem fremden Planeten? Warum hier und warum jetzt?«

Marquoz seufzte und schuttelte den Kopf.

»Ich wei? es wirklich nicht. Nennen Sie es Halsstarrigkeit. Nennen Sie es Narretei oder vielleicht sogar ein wenig Angst davor, mit denen zu gehen und auf das zu sto?en, was dort sein mag. Vielleicht ware es eine Schande, Korper und Verstand hier nicht fur einen wichtigen Zweck einzusetzen. Ich kann Ihnen wirklich keine Antwort geben, die mich befriedigt, Ortega. Wie sollte ich eine geben konnen, die es bei Ihnen tut?«

Ortega schaute sich in der Dunkelheit um.

»Vielleicht kann ich das erklaren — wenigstens zum Teil«, meinte er nachdenklich. »Ich wette, wenn wir jetzt zu allen unseren Leuten gehen wurden, die ausschlie?lich Freiwillige sind, wohlgemerkt, wurden wir dasselbe Gefuhl erleben, das ich auch habe. Ein Gefuhl, etwas Wichtiges, ja Entscheidendes zu leisten. In jedem Zeitalter, in jeder Rasse kommt es wohl vor, da? einige wenige sich in einer solchen Lage befinden. Sie glauben an das, was sie tun, und an die Richtigkeit ihrer Sache. Es ist wichtig. Deshalb erzahlt man die Geschichten immer noch und ehrt das Andenken an solche Leute und Taten, obwohl das, wofur sie sich eingesetzt haben, in manchen Fallen sogar ihre ganzen Welten, langst tot und vergangen sind, ihre Rassen Staub wurden. Aber Sie sind nicht in einer ausweglosen Lage, Marquoz. Sie haben sich selbst hineinbegeben, obwohl Sie Abstand hatten halten und Gewinn erzielen konnen.«

»Genau das habe ich mein ganzes Leben lang getan«, erwiderte der Hakazit. »Ich pa?te nie in meine Chugach-Gesellschaft hinein. Ich war der Au?enseiter, der Unangepa?te. Meine Familie war reich, angesehen und ohne echte Verantwortung, so da? ich nie zu irgend etwas gezwungen war. Ich studierte, ich las, ich befa?te mich mit Dingen au?erhalb der Chugach-Welt. Ich wollte das Universum sehen, wahrend der Gro?teil meiner Rasse nicht einmal die nachste Stadt kennenlernen wollte. Ich war wohl der absolute Hedonist, nehme ich an — alles, was ich wollte, und ohne Kosten fur mich. Ich ha?te das. Immer ich, ich, ich — die meisten Leute behaupten, ja, so wollten sie es. Ich kann nicht behaupten, ich hatte meinen Glauben verloren, weil ich namlich von Anfang an keinen hatte. Im Universum stand es eben so, da? die Leute mit der Macht die anderen unterdruckten. Und wenn die anderen sie durch Revolution oder Reform plotzlich erhielten, gingen sie her und unterdruckten wieder andere oder bekampften sich gegenseitig, um in den Besitz der ganzen Macht zu gelangen. Mit Hilfe von Religion hielt man das Volk nieder. Ich habe noch nie erlebt, da? ein Gott fur irgend jemanden irgend etwas getan hatte, und die meisten Religionen aller Rassen, die ich kannte, waren gute Ausreden fur Krieg, Massenmord und die Erhaltung korrupter Macht. Politik war dasselbe, unter einem anderen Namen. Ideologie. Die gro?ten Sozialrevolutionare verwandelten sich in absolute Herrscher, sobald sie ihre Machtposition gefestigt hatten. Nur die Technologie brachte Verbesserungen, und selbst sie wurde gelenkt von den Machthabern, die sie fur ihre eigenen Zwecke benutzten. Und was, wenn jedermann reich wurde und niemand mehr zu arbeiten brauchte? Dann hatte man einen Haufen fetter, reicher, nicht mehr entwicklungsfahiger Klotze vor sich.«

Ortega grinste uber den Zynismus seines Gegenubers. Es war der erste, der den seinen weit ubertraf.

»Keine Romanzen in Ihrem Leben?« fragte er.

Der andere seufzte.

»Nein, eigentlich nicht. Ich habe mich von anderen nie korperlich besonders angezogen gefuhlt. Die Chugach sind in einem gewissen Sinn romantisch, ja; sie sitzen herum, saufen, prahlen mit ihren Klans, singen Lieder und erfinden Tanze. Aber ich personlich, nein. Ich habe meinesgleichen nie sehr gemocht. Auch ein Haufen von fetten, reichen, faulen Klotzen. Wissen Sie, es gibt auf vielen Welten Geschichten uber Leute, die als Sauglinge in der Wildnis verlorengingen und von Tieren aufgezogen wurden. Sie kommen heraus und denken und handeln wie Tiere. Es steckt mehr dahinter als die au?ere Form. Au?erlich war ich ein Chugach, ja, und innerlich… etwas anderes. Fremdes.«

»Fremdes?« sagte Ortega und zog die Brauen hoch. »Wie das?«

Marquoz wahlte seine Worte mit Bedacht.

»Ich bin einmal ein paar Kom-Menschen begegnet, die Manner waren, innerlich aber fest davon uberzeugt, sie seien in Wahrheit Frauen. Sie wollten sich behandeln lassen und auch biologisch Frauen werden. Vielleicht war das psychologisch bedingt, vielleicht durch Hormone, was wei? ich — aber es hatte eigentlich nichts Sexuelles an sich. Die beiden Manner liebten einander und wollten doch beide Frauen werden. Verruckt, nicht? Ich identifizierte mich aber mit ihnen, einfach deshalb, weil ich ein fremdes Wesen im Korper eines Chugach war. Aber fur mich gab es keine Operation — so einfach war das nicht. Der Fremde im Korper eines Chugach sa? dort in der Falle. Ich fuhlte nicht wie ein Chugach, handelte nicht wie einer, dachte nicht einmal wie einer. Ich kam mir mitten unter meinen eigenen Leuten vollig fremd vor.«

»Ich mu? zugeben, so etwas ist mir neu«, raumte Ortega ein. »Aber ich kann mir denken, wie unausweichlich so etwas ist.«

»Nicht so neu. Ich glaube, alle Rassen haben da ihren Anteil. Hier auf der Sechseck-Welt mit 1560 eng aufeinander lebenden Rassen bin ich oft darauf gesto?en. Ich vermute, da? das viel weiter verbreitet ist, als man uns glauben machen will. Man redet nur nicht daruber, weil es keinen Sinn hat. Man nennt solche Leute einfach geisteskrank, hangt ihnen irgendeine medizinische Bezeichnung an und erklart ihnen, da? sie lernen mussen, sich anzupassen. Und was kann man dagegen tun? Man kann nicht zu seinem Arzt gehen und sagen: ›Machen Sie aus mir etwas anderes.‹ Uberlegen Sie, wie viele von den Menschen die Sechseck-Welt mit Sehnsucht betrachtet haben. Ein romantischer Ort, ein Ort, wo man in ein vollig anderes Wesen verwandelt werden konnte. Und fur jeden, den der Gedanke abstie?, gab es mindestens einen, der sich in seiner Phantasie vorstellte, was er gerne gewesen ware, und dadurch erregt wurde.«

»Und deshalb haben Sie sich freiwillig gemeldet, um die Menschen als Spion zu beobachten?«

Marquoz lachte leise.

»Nein, ich habe mich eigentlich nicht freiwillig gemeldet — obwohl ich das vielleicht getan hatte, wenn mir etwas davon bekannt gewesen ware. Man suchte mich aus. Mein psychologisches Profil war das, was sie suchten — jemand, der sich in einer vollig fremdartigen Kultur ebenso zu Hause fuhlte wie bei seinen eigenen Genossen.«

Ortega nickte.

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