das medizinische Personal verteilt werden sollte. Darin hob er so stark wie moglich die Notwendigkeit einer schnellen, geordneten Evakuierung hervor, ohne sie allerdings so zu ubertreiben, da? daraus Panik erwuchs. Er empfahl, die Patienten durch ihren jeweiligen Arzt zu informieren, um ihnen so wenig Sorgen wie moglich zu bereiten. Bei schwerkranken Patienten sollten die verantwortlichen Arzte nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie die Patienten aufklaren oder lieber unter Beruhigungsmitteln evakuieren wollten. Conway fugte seinem Bericht au?erdem die Mitteilung hinzu, da? eine momentan noch unbestimmte Anzahl medizinischer Mitarbeiter zusammen mit den Patienten evakuiert werden wurde und jeder darauf vorbereitet sein sollte, das Hospital innerhalb weniger Stunden zu verlassen. Dann schickte er dieses Dokument zur optischen und akustischen Vervielfaltigung an die zustandige Abteilung, damit alle ungefahr zur gleichen Zeit in den Besitz dieser Informationen gelangen wurden.
Zumindest steckte diese Idee dahinter. Aber so, wie er die Geruchtekuche des Orbit Hospitals kannte, wurden die wesentlichen Einzelheiten schon zehn Minuten nach Verlassen seines Schreibtisches in Umlauf sein.
Als nachstes arbeitete er detailliertere Anweisungen bezuglich der Patienten aus. Die warmblutigen, sauerstoffatmenden Lebensformen konnten das Orbit Hospital zwar durch irgendeine von mehreren moglichen Ebenen verlassen, doch die Spezies mit gro?er Schwerkraft und hohem Druck wurden noch besondere Probleme aufwerfen, ganz zu schweigen von den unter geringer Schwerkraft lebenden MSVKs und LSVOs, den riesigen, wasseratmenden AUGLs, den unter extremer Kalte lebenden Methanarten und den ungefahr zwolf Wesen auf Ebene achtunddrei?ig, die extrem hei?en Dampf atmeten. Conway veranschlagte fur das Unternehmen bei den Patienten eine Dauer von funf Tagen und noch einmal zwei fur das Personal. Aber fur diese schnelle Raumung der Stationen wurde er die Wesen durch ihnen unbekannte Ebenen zu ihren Einschiffungspunkten schicken mussen. Es bestand durchaus die Moglichkeit, da? Umweltbedingungen mit einer Chloratmosphare durch Sauerstoff verseucht werden konnten, und die Gefahr, da? Chlor in die AUGL-Stationen entwich, oder alles von Wasser uberflutet wurde. Man mu?te Vorsichtsma?nahmen ergreifen, damit nicht die Kuhlmaschinen der Methanlebensformen ausfielen, die Schwerkraftgurtel der zerbrechlichen, vogelahnlichen LSVOs versagten oder die Druckhullen der Illensaner in sich zusammenfielen.
In einem Hospital mit vielfaltigen Umweltbedingungen stellte eine Verseuchung die gro?te Gefahr dar, und zwar die Verseuchung durch Sauerstoff, Chlor, Methan, Wasser, Kalte, Hitze oder Strahlung. Denn wahrend der Evakuierung wurde man die Sicherheitsvorrichtungen, die ublicherweise in Betrieb waren — wie zum Beispiel gasdichte Turen, Doppelschleusen zwischen den Ebenen und die verschiedensten Me?- und Alarmsysteme —, im Interesse einer schnellen Flucht au?er Kraft setzen mussen.
Sobald die Patienten schlie?lich ohne Zwischenfall an den Einschiffungspunkten angelangt waren, mu?te man vor der Einschiffung erst das Personal zur Inspektion des Transporters abkommandieren, um auch die exakte Reproduktion der Umweltbedingungen der mitfliegenden Patienten sicherzustellen.
Auf einmal streikte Conways Verstand — er war einfach nicht mehr aufnahmefahig. Er schlo? die Augen, lie? den Kopf in die Hande sinken und beobachtete, wie das Nachbild seiner Schreibtischplatte langsam in einen Rotschimmer uberlief. Er hatte diesen ganzen Papierkram allmahlich satt; seit er den Auftrag auf Etla erhalten hatte, bestand sein Leben nur noch aus Schreibarbeit: Berichte, Zusammenfassungen, Tabellen, Anweisungen.
Er war ein Arzt, der zur Zeit eine komplizierte Operation ausarbeitete; aber es handelte sich um die Art Operation, die eher von einem leitenden Buroangestellten durchzufuhren war als von einem Chirurgen. Schlie?lich hatte er nicht den gro?ten Teil seines Lebens mit einem Studium und einer langwierigen Ausbildung verbracht, um Buroangestellter zu werden.
Er stand auf, entschuldigte sich mit heiserer Stimme beim Colonel und verlie? das Buro. Ohne wirklich daruber nachzudenken, ging er in Richtung der ihm zugeteilten Stationen.
Gerade fing eine neue Schicht mit dem Dienst an, und fur die Patienten war es eine Stunde vor der ersten Tagesmahlzeit. Fur eine Chefarztvisite war die Zeit deshalb eigentlich sehr ungewohnlich, und die leichte Panik, die Conway dadurch ausloste, ware unter anderen Umstanden komisch gewesen. Er gru?te freundlich den diensthabenden Medizinalassistenten und stellte mit einiger Uberraschung fest, da? es sich um genau den gleichen creppelianischen Oktopoden handelte, den er noch zwei Monate zuvor als Auszubildenden kennengelernt hatte. Als ihm der AMSL dann unbedingt, wenn auch in respektvollem Abstand, bei seiner Visite folgen wollte, argerte sich Conway. Fur einen relativ unerfahrenen Medizinalassistenten war dieses Verhalten naturlich vollkommen korrekt, aber in diesem Moment wollte Conway mit seinen Patienten und seinen eigenen Gedanken lieber allein sein.
Am starksten von allem verspurte er das Bedurfnis, die manchmal seltsamen, aber immer wunderbaren extraterrestrischen Patienten zu sehen und zu sprechen, die zwar theoretisch gesehen unter seiner Obhut standen, denen er aber praktisch noch nie begegnet war — alle Lebewesen, die er vor dem Abflug zum Planeten Etla kennengelernt hatte, waren namlich inzwischen schon langst entlassen worden. Er warf keinen Blick auf die Diagramme der Patienten, weil er im Moment eine Allergie gegen die Abstraktion von Informationen durch gedruckte Zahlen hatte. Statt dessen befragte er sie eingehend und fast begierig uber ihre Krankheitssymptome, ihre Verfassung und ihren Werdegang. Einige der geringfugigeren Falle waren erfreut und verblufft zugleich, da? ihnen von einem Chefarzt so viel
Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, wahrend sich einige andere von seiner Neugier moglicherweise eher belastigt fuhlten. Doch Conway mu?te einfach so handeln; denn solange er noch Patienten hatte, wollte er auch Arzt sein.
Und zwar ein Arzt fur ETs…
Das Orbit Hospital loste sich auf. Das gewaltige, komplexe Bauwerk, das der Linderung des Leidens und dem Fortschritt der xenologischen Medizin gewidmet war, stand vor dem Kollaps, erlag wie jeder unheilbare Patient einer ubermachtigen Krankheit. Morgen oder ubermorgen wurden sich diese Stationen langsam leeren. Die Patienten, die sich in Physiologie, Metabolismus und in ihren Beschwerden auf so exotische Weise unterschieden, waren verschwunden. In abgedunkelten Stationen wurden sich die seltsamen und wunderbaren Spezialanfertigungen, unter denen sich Aliens ein bequemes Bett vorstellten, wie surrealistische Gespenster an den Wanden entlang zusammenkauern. Und mit dem Abflug der ET-Patienten und des Personals wurde auch keine Notwendigkeit mehr bestehen, die fur sie lebensnotwendigen Umweltbedingungen aufrechtzuerhalten, die Translatoren zu betreiben, die ihnen die gegenseitige Verstandigung ermoglichten, die Physiologiebander zu speichern, die eine Spezies in die Lage versetzte, eine zweite zu behandeln.
Doch das gro?te Hospital fur ETs in der Galaxis wurde nicht vollkommen untergehen, jedenfalls nicht in den nachsten paar Tagen oder Wochen. Das Korps hatte zwar keine Erfahrung in interstellaren Kriegen, denn der sich hier anbahnende Krieg war immerhin der erste, doch glaubten die Monitore zu wissen, was sie erwartete. Unter den Schiffsbesatzungen wurde mit starken Verlusten gerechnet. Die eingelieferten uberlebenden Opfer wurden in erster Linie unter Dekompression, Knochenbruchen und Strahlenverseuchung leiden. Man glaubte, da? zwei oder drei Ebenen zu ihrer Versorgung ausreichen mu?ten; sollte das Gefecht mit Nuklearwaffen gefuhrt werden — und es gab keinen Grund fur eine gegenteilige Annahme —, dann waren die meisten Verwundeten namlich gleichzeitig auch unheilbar strahlenverseucht. Zynisch ausgedruckt, bestand fur das Orbit Hospital also zumindest keine Uberffulungsgefahr.
Sobald die Streitkrafte des Imperiums angreifen sollten, wurde sich der mit der Evakuierung eingesetzte innere Zerfall au?en am Bauwerk fortsetzen. Conway war zwar kein Militarstratege, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie dieses gewaltige, beinahe leere Hospital uberhaupt verteidigt werden sollte. Es stellte fur seine Angreifer eine leichte, wenn auch nicht lohnenswerte Beute dar, weil nur ein gro?er, eingeschmolzener, zerbombter Metallfriedhof ubrigbleiben wurde.
Plotzlich wurde Conway von einer ungeheuer starken Gefuhlswelle ubermannt: Niedergeschlagenheit, Traurigkeit und eine Woge von purem Zorn lie?en ihn am ganzen Korper zittern. Als er aus der Station hinausstolperte, wu?te er nicht, ob er heulen, fluchen oder jemanden niederschlagen sollte. Aber die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als er um die Ecke in den zur Abteilung der PVSJs fuhrenden Gang einbog und heftig mit Schwester Murchison zusammenprallte.
Der Zusammensto? war nicht schmerzhaft, denn einer der beiden kollidierenden Korper war hinreichend mit sto?dampfendem Material ausgestattet. Die Kollision war aber stark genug, um Conways Verstand von einem sehr finsteren Gedankengang auf einen unendlich erfreulicheren zu bringen. Plotzlich war Conways Verlangen, Murchison anzusehen und mit ihr zu reden, genauso gro? wie vorher der Drang, seine Patienten zu besuchen. Der Grund war derselbe — vielleicht sah er sie zum letztenmal in seinem Leben.