Doch schlie?lich loste er das Problem mit einem gro?artigen Geistesblitz — der ihm allerdings schon zwei Sekunden zuvor hatte kommen mussen, nachdem er das eigentliche Problem erkannt hatte, wie er sich selbst verargert vorwarf. Er schaltete jedenfalls schnell die kunstlichen Schwerkraftgitter im Korridor auf null Ge, und in der dadurch entstandenen Schwerelosigkeit verloren die Druckzelte naturlich ihren Auftrieb. Deshalb konnten die Schwestern nun zwar nicht mehr neben ihren Patienten einhergehen, sondern mu?ten vielmehr schwimmen, aber das war nun wahrhaftig kein gro?es Problem.
Wahrend dieses PVSJ-Transports erfuhr Conway auch den Grund fur Mannons „Hmpf!“ oben in der Anmeldezentrale — bei einer der an diesem Unternehmen beteiligten Schwestern handelte es sich namlich um Murchison. Sie hatte ihn naturlich nicht bemerkt, doch er kannte nur eine Frau, die den leichten Schwesternanzug auf diese unnachahmliche Weise fullen konnte. Conway hatte jedoch noch nicht mit ihr gesprochen, dazu schien hier weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt zu sein.
Die Stunden verstrichen, ohne da? weitere gro?ere Probleme auftauchten. Das kelgianische Hospitalschiff an Schleuse funf war inzwischen zum Abflug bereit und wartete nur noch auf einige Mitglieder des Hospitalpersonals und auf ein Monitorschiff, das ihm bis zum Erreichen einer sicheren Eintauchdistanz in den Hyperraum Geleitschutz geben sollte. Unter einigen der mit diesem Schiff abfliegenden Wesen waren viele langjahrige Freunde Conways, und deshalb entschlo? er sich, die durch die momentane Ruheperiode gebotene Chance zu nutzen, um sich von ihnen wenigstens kurz zu verabschieden. Er setzte rasch Mannon von seiner Absicht in Kenntnis, und machte sich dann auf den Weg zu Schleuse funf.
Doch als Conway schlie?lich dort angekommen war, hatte das kelgianische Schiff bereits abgelegt. Durch eine der gro?en Direktsichtluken hindurch sah er, wie es sich, dicht gefolgt von einem Monitorkreuzer, entfernte. Hinter den beiden Schiffen schwebte die Verteidigungsflotte des Monitorkorps in der undurchdringlichen Schwarze des Alls wie ein neu entstandenes Sternbild. Die Massierung der Einheiten um das Hospital herum verlief ganz nach Plan und hatte sichtlich zugenommen, seit Conway am Vortag einen Blick auf die Einheiten geworfen hatte. Der Anblick flo?te ihm zwar kein bi?chen Ehrfurcht ein, trotzdem eilte er mit einem Gefuhl der Sicherheit zur AUGL-Abteilung zuruck.
Als er dort ankam, war der Korridor durch eine sich immer weiter ausdehnende Kugel aus Eis fast vollig verstopft.
Das Schiff vom Planeten Gregor besa? einen besonders tiefgekuhlten Abschnitt fur Lebewesen der Klassifikation SNLU — das sind zarte, kristalline, auf Methan basierende Lebensformen, die sofort zu Asche zerfallen, wenn die Umgebungstemperatur auf uber minus hundertzwanzig Grad steigt. Im Orbit Hospital wurden momentan sieben dieser unter extremer Kalte lebenden Wesen behandelt. Fur den Transport hatte man alle sieben SNLUs in eine drei Meter hohe, tiefgefrorene Kugel gesteckt. Wegen der Schwierigkeiten, die man beim Umgang mit dieser Kugel erwartete, brachte man die SNLUs als letzte der fur das gregorianische Schiff bestimmten Patienten zur Schleuse.
Ware von der Kalteabteilung eine direkte Offnung ins All vorhanden gewesen, dann hatte man die SNLUs an der Au?enwand des Hospitals entlang zum Schiff gebracht. Da das jedoch nicht moglich war, mu?te man sie von der Methanstation aus uber vierzehn Ebenen zum Einschiffungspunkt an Schleuse sechzehn fuhren. Auf samtlichen anderen Ebenen waren die Korridore geraumig und mit Luft oder Chlor gefullt; deshalb hatte sich auf der Schutzkugel lediglich Rauhreif gebildet, und durch die Kalte war die Atmosphare in unmittelbarer Umgebung nur abgekuhlt worden, ohne ihren gasformigen Zustand zu verandern. Doch in der AUGL-Abteilung handelte es sich nicht mehr um Rauhreif, sondern um massives Eis, das immer mehr an Umfang zunahm, und das rapide.
Conway hatte zwar gewu?t, da? sich die Kugel mit Eis uberziehen wurde, diesen Umstand jedoch nicht fur wichtig gehalten. Denn eigentlich hatte sich die Kugel nicht so lange im wassergefullten Korridor befinden sollen, da? das Eis zum Problem werden konnte. Doch unglucklicherweise war eine der Schleppleinen gerissen und die Kugel dadurch gegen ein vorstehendes Leitungsrohr gezogen worden. Innerhalb weniger Sekunden waren Kugel und Leitungsrohr zusammengefroren. Zur Zeit war die Kugel von einer ungefahr einen Meter dicken Eisschicht uberzogen, und uber und unter ihr war kaum noch Platz zum Durchkommen.
„Schicken Sie uns Schneidbrenner runter“, brullte Conway uber Funk zu Mannon hoch. „Schnell!“
Kurz bevor der Korridor ganz blockiert war, trafen drei Monitore ein. Sie stellten die Flammen der Schneidbrenner auf maximale Streuung und gingen damit gegen die Eismasse vor, indem sie die Kugel von der vorstehenden Leitung losschmolzen und ihren Umfang auf eine „handlichere“ Gro?e zu verkleinern versuchten. In der Enge des Korridors schnellte die Wassertemperatur naturlich wegen der Hitzezufuhr nach oben, und zu allem Uberflu? war keiner der Anzuge der Anwesenden mit Kuhlelementen ausgerustet. Conway konnte sich allmahlich lebhaft vorstellen, wie sich Hummer beim Kochen fuhlen mu?ten. Daruber hinaus stellte die gewaltige unhandliche Eismasse eine Gefahr fur Leib und Leben dar, denn wenn sie plotzlich ins Rollen geriet, konnte man schnell zwischen ihr und der Korridorwand zerquetscht werden. Andererseits hatte wegen des siedenden, beinahe undurchsichtigen Wassers auch leicht ein Arm oder Bein zwischen das Eis und eine Schneidbrennerflamme geraten konnen.
Aber schlie?lich war die Arbeit beendet, und man manovrierte den Behalter mit den darin befindlichen SNLUs durch die Zwischenschleuse in eine andere mit Luft gefullte Abteilung. Conway fuhr sich mit der Hand uber den Helm — ein unbewu?ter Versuch, sich den Schwei? von der Stirn zu wischen — und fragte sich, was wohl noch alles schiefgehen wurde.
Oben aus der Anmeldezentrale lie? Dr. Mannon diesbezuglich verlauten, da? gar nichts mehr schiefgehen konne.
Wie er mit unverhohlener Begeisterung berichtete, stunden jetzt samtliche drei Ebenen fur DBLFs leer, weil die Patienten mit dem kelgianischen Schiff bereits abgeflogen waren. Laut Mannon gehorten die einzigen im Hospital zuruckgebliebenen kelgianischen Raupen ausnahmslos dem Pflegepersonal an. Die drei illensanischen Frachter hatten mittlerweile alle Chloratmer der PVSJ-Stationen aufgenommen, es fehlten nur noch ein paar Nachzugler, die sich jedoch in wenigen Minuten ebenfalls an Bord befinden wurden. Von den Stationen der Wasseratmer war inzwischen die der AUGLs geraumt, auf der Station fur ELNTs befanden sich keine Melfaner mehr, und auch die SNLUs schifften sich gerade in ihrem Minieisberg ein. Also standen alle vierzehn Ebenen leer. Das sei, wie Mannon meinte, doch kein schlechtes Stuck Arbeit, und er schlug vor, Conway solle die Gelegenheit beim Schopf packen und sich aufs Ohr hauen, um sich als Vorbereitung auf einen gleicherma?en arbeitsreichen morgigen Tag in einen Zustand willkurlicher Bewu?tlosigkeit fallen zu lassen.
Vorerst schwamm Conway noch mude auf die Zwischenschleuse zu, seine Gedanken kreisten aber bereits um die unendlich verfuhrerische Vorstellung von einem gro?en Steak und einem langen Schlaf, wenn es sich denn so ergeben sollte.
Plotzlich versetzte ihm irgend etwas, das er nicht sehen konnte, einen brutalen Schlag, der ihn bewegungsunfahig machte. Er wurde gleichzeitig an Unterleib, Brust und Beinen getroffen — also dort, wo der Anzug am engsten war. In Conways Innerem brach die Todesangst wie eine blutige Explosion aus, die sein gequalter Korper kaum unter Kontrolle bringen konnte. Er krummte sich und wurde langsam ohnmachtig. Er wollte sterben und wunschte verzweifelt, sich zu ubergeben. Doch irgendein winziger Teil seines Gehirns, der nicht vom Schmerz und der Ubelkeit in Mitleidenschaft gezogen war, wollte das auf keinen Fall zulassen — sich in einen Helm zu ubergeben ist eine au?erst scheu?liche Art zu sterben.
Nach und nach lie?en die Schmerzen nach und wurden schlie?lich etwas ertraglicher, doch fuhlte er sich noch immer so, als hatte ihm ein Tralthaner mit allen sechs Fu?en in den Unterleib getreten. Trotzdem nahm er jetzt langsam auch andere Dinge wahr: laute, penetrante, gluckernde Gerausche und den au?erst eigenartigen Anblick einer anscheinend ohne Schutzanzug im Wasser treibenden Kelgianerin. Ein zweiter Blick klarte Conway allerdings daruber auf, da? die Kelgianerin doch einen Anzug trug, dieser aber zerrissen und voller Wasser war.
Weiter unten im Tank trieben zwei weitere Kelgianerinnen, deren lange, weiche und pelzige Korper vom Kopf bis zum Schwanz aufgeplatzt waren. Glucklicherweise verwischte ein sich ausbreitender roter Nebel die grauenerregenden Einzelheiten. Vor der gegenuberliegenden Wand des Beckens hatten sich um ein dunkles, unregelma?iges Loch Turbulenzen gebildet. Dort schien das Wasser auszulaufen.
Conway fluchte. Er glaubte zu wissen, was passiert war. Wodurch auch immer dieses ausgezackte Loch verursacht worden war, die Wucht hatte sich jedenfalls auch auf die ungluckseligen Lebewesen im AUGL-Becken ausgedehnt, weil sich Wasser nun einmal nicht komprimieren la?t. Die dritte Kelgianerin und Conway selbst waren den schlimmsten Auswirkungen nur deshalb entgangen, weil sie sich hier oben im Korridor befunden hatten.
Vielleicht war aber auch nur einer der beiden den Auswirkungen entgangen.