der Fall.« Hellinger warf sein langes graues Haar uber die Schulter zuruck und zupfte an seinem Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. »Aber jetzt, da Wilden nicht mehr ist, wird das sicher noch ofter passieren.« Er legte den Kopf schrag. »Die werden sich noch wundern.«
»Wer wird sich noch wundern?«, wollte Alexandra wissen.
»Na, die Damen und Herren vom Vorstand. Als Wildens Assistent durfte Assmann die besten Chancen haben, zumindest kommissarisch dessen Posten zu ubernehmen, doch das wird auch schon alles sein. Dann wird seine Karriere namlich bald einen jahen und tiefen Absturz erleben.«
»Wieso?«
»Weil Assmann ein Blender ist, der nur solange den Kopf uber Wasser halten kann, wie er jemanden hat, den er imitieren und dem er nacheifern kann. Er hat sich von Wilden abgeguckt, wie man seine Mitarbeiter von oben herab behandelt. Aber das funktioniert alles nur, solange es jemanden gibt, der die Hande schutzend uber ihn halt. Ohne starke Ruckendeckung und eine Vorlage, an der er sich orientieren kann, ist Assmann namlich so hilflos wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wenn er die Arbeit kommissarisch erledigt, kommt fruher oder spater ein Vorgang auf seinen Tisch, mit dem er uberfordert ist. Dann wird der Vorstand begreifen, dass Assmann in Wahrheit eine Null ist, und man wird ihn feuern.«
»Aber Sie und einige Ihrer Kollegen sind doch schon viel langer mit dabei«, wandte Tobias ein. »Wieso sollte man ausgerechnet den zu Wildens Nachfolger ernennen, der als Letzter eingestellt wurde?«
»Weil Assmann ein Blender ist.« Hellinger zuckte mit den Schultern. »Er versteht es, sich zu verkaufen und gleichzeitig die Konkurrenz schlechtzureden.«
»Wird der Vorstand ihn denn nicht durchschauen?«
»Sehen Sie, Assmann verkorpert ein Image, das zurzeit sehr in ist. Er ist jung und voller Elan, er hat Rhetorikkurse absolviert und kann schlau daherreden. In seinen Vortragen arbeitet er mit komplizierten Grafiken und ausgefeilten Schaubildern, er wartet mit Statistiken und uberraschenden Prognosen auf. Mit all dem Schischi tauscht er gekonnt daruber hinweg, dass alles, was er sagt, nur hei?e Luft ist. Er ist in gewisser Weise noch schlimmer als Wilden.«
Alexandra nickte. »Halten Sie es fur moglich, dass er Bernd Wilden … aus dem Weg geraumt hat, um dessen Platz einzunehmen? Ich meine, Herr Assmann hat einen ziemlich teuren Geschmack, den er sich als Assistent eines Geschaftsfuhrers eigentlich nicht leisten kann.«
»Hm.« Hellinger versank einen Augenblick in nachdenkliches Schweigen. »Ja, moglich ware es. Bei seiner Neigung zur Selbstuberschatzung kann ich mir vorstellen, dass er glaubt, Wildens Job mit links machen zu konnen.«
»Und … wussten Sie sonst noch jemanden, der vom Tod Ihres Geschaftsfuhrers profitieren wurde?«
»Keine Ahnung. Ich war’s jedenfalls nicht.« Norbert Hellinger zwinkerte Alexandra zu. »Ich wei?, worauf Sie hinauswollen.«
»Okay, dann durfte Ihnen auch klar sein, dass Sie in unseren Augen ein Motiv fur eine solche Tat hatten.«
»Und welches Motiv sollte das sein?«
»Sie konnten sich beispielsweise von Wilden schikaniert gefuhlt haben«, erklarte Tobias, »und sauer sein, weil Ihr Arbeitsplatz durch die Abschaffung des Zivildienstes praktisch uberflussig geworden ist.«
»Schikaniert?«, wiederholte Hellinger und lachte laut auf. »Das waren alberne Machtspielchen, aber keine Schikanen. Ich wusste ja, Wilden will mich loswerden. Es ging ihm nicht darum, mich zu qualen. Er wollte blo?, dass ich kundige, auf meine Abfindung verzichte und fur jemanden Platz mache, der fur ein Viertel meines Gehalts genauso viel arbeiten muss. Wenn jemand schikaniert wird, dann wird es das arme Schwein sein, das meine Nachfolge antritt. Die Bezahlung wird namlich ein Witz sein.« Er sah Tobias und Alexandra eindringlich an. »Ich habe damals noch aus Uberzeugung meinen Zivildienst geleistet; ich wollte niemals in die Situation kommen, einen Menschen toten zu mussen. Daran hat sich nichts geandert. Toten wurde ich auch heute nur, um mein eigenes oder ein drittes Leben zu retten. Wilden stellte keine Bedrohung fur mein Leben dar, nicht mal eine fur meine Stelle. Er konnte mich nicht rausschmei?en, ohne tief in die Tasche greifen zu mussen. Und dieser Hanswurst Assmann steht vor dem gleichen Problem. Der Vorstand macht eine Menge mit, doch meine Abfindung wurde nach so vielen Dienstjahren so unverschamt hoch ausfallen, dass sie mich lieber in ein Buro setzen und Ordner zahlen lassen. Das kommt sie immer noch billiger zu stehen.«
»Gut«, sagte Alexandra und sah auf ihre Notizen. »Dann war’s das fur den Moment. Vielen Dank, Herr Hellinger. Aber … Sie konnten bitte hier auf diesem Blatt noch notieren, wo Sie sich wann aufgehalten haben, und zwar in der Zeit von acht Uhr am Freitagabend bis zum Auffinden der Leiche heute Morgen. Versuchen Sie, die Angaben so prazise wie moglich zu machen, und vermerken Sie bitte auch, wo Sie Herrn Wilden zuletzt gesehen haben.«
Norbert Hellinger sah sie argwohnisch an. »Ich dachte, Sie verdachtigen mich nicht. Was soll denn das jetzt?«
»Wir verdachtigen Sie tatsachlich nicht, genauso haben wir auch keinen Ihrer Kollegen im Visier«, meldete sich Tobias zu Wort. »Wir mochten nur herausfinden, wer sich im fraglichen Zeitraum wo im Gebaude oder auch au?erhalb aufgehalten hat. So konnen wir mit etwas Gluck feststellen, wer der absolut Letzte war, der Wilden noch lebend gesehen hat.«
»Machen sie sich keine Sorgen, Herr Hellinger«, fugte Alexandra hinzu. »Wir bringen Licht in die Sache.«
Es war kurz nach neunzehn Uhr, als sie den zehnten und letzten Mitarbeiter befragt und Gesprachsnotizen angefertigt hatten. Um achtzehn Uhr hatten die Monche ihnen allen belegte Brote gebracht. Jeder von ihnen hatte eine Scheibe Brot bekommen, je zur Halfte mit Wurst und mit Kase belegt. Offenbar war das nach dem aus Grunden der Enthaltsamkeit entfallenen Mittagessen alles, was sie heute noch zu essen bekommen wurden. Beim Anblick des Brotbelags war Alexandra heilfroh, am Mittag bei Angelika eingekehrt zu sein.
Zwischendurch war Bruder Andreas ein paarmal vorbeigekommen, um die Zettel der Befragten abzuholen und die Zeitangaben und Beobachtungen in das Computerprogramm zu ubertragen. Der Form halber schrieben Alexandra und Tobias ebenfalls auf, wo sie sich wann aufgehalten und wen sie dabei gesehen hatten. Vielleicht halfen ihre Angaben ja, jemand anders einer Falschaussage zu uberfuhren.
»Ich werde das Gefuhl nicht los, dass wir so schlau sind wie zuvor«, murmelte Alexandra enttauscht und uberflog ihre Notizen. »Also … Hellinger scheint keinen Grund gehabt zu haben, Wilden zu ermorden. Leybold aus der Personalabteilung ist rundum mit seiner Arbeit zufrieden, jedenfalls behauptet er das. Angeblich hat es ihm nie etwas ausgemacht, sich von Wilden Vorschriften machen zu lassen.«
Tobias holte seinen Notizblock hervor und blatterte darin. »Anna Maximilian hat gar nichts von Wildens Tod, weil sie nicht qualifiziert ist, zur Leiterin der Finanzen aufzusteigen, wenn Wiesmann, der momentan die Finanzabteilung unter sich hat, auf den Geschaftsfuhrerposten wechselt. Ich glaube, sie kommt von allen am wenigsten infrage, weil es ja nicht mal sicher ist, dass ihr Chef Wildens Nachfolger wird. Allein aufgrund von Wunschdenken jemanden umzubringen ware verdammt voreilig.«
»Yasmin Tonger behauptet, Wilden habe sich nicht von ihr getrennt und das auch nicht beabsichtigt, und ihre Kollegin Drach macht auf mich nicht den Eindruck, dass sie uberhaupt intelligent genug ist, um so eine Tat zu planen«, erganzte sie. »Damit bleiben als wahrscheinlichste Verdachtige nach wie vor Gro?, Wiesmann, Dessing und Kramsch, weil die alle von Wildens Tod hatten profitieren konnen.«
»Vergiss Assmann nicht!«, warf er ein.
»Habe ich nicht vergessen, weil mir gerade ein Gedanke durch den Kopf gegangen ist. Assmann ist zwar ehrgeizig, aber ziemlich unfahig, wenn er auf sich gestellt ist. Jetzt nimm mal an, er wei? das. Dann ware es doch beruflicher Selbstmord, wenn er Wilden totet und auf dessen Posten nachruckt, den er gar nicht ausfullen kann.«
»Du meinst, es konnte eher einer der vier anderen gewesen sein, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen?«
»Einer … oder mehrere«, uberlegte sie. »Vielleicht sogar die ganze Bande gemeinsam.« Alexandra runzelte die Stirn. »Lass mich mal laut nachdenken: Der Vorstand setzt sich uberwiegend aus alten Mannern zusammen, also wird eine Frau bei ihnen wahrscheinlich schlechte Karten haben. Damit kann Viola Dessing den Posten vergessen. Edwin Gro? ist der Jungste aus der Gruppe, Volker Kramsch der Alteste. Wenn wir Wiesmann mal au?er Acht lassen, dann konnte Kramsch den Posten ubernehmen, bleibt sechs oder sieben Jahre darauf hocken und wird pensioniert. Danach kann Gro? ihn beerben und hat dann immer noch sicher zehn oder zwolf Jahre vor