Bruder Johannes nickte bedachtig. »Ich wei?, das klingt ganz und gar unchristlich, aber insgeheim hoffe ich, dass Herr Wilden nicht durch einen Unfall umgekommen ist, denn ein Unfall … das ware fur uns viel unerfreulicher. Dann wurde es eine Untersuchung geben, man wurde unsere Sicherheitsstandards uberprufen, und wir konnten verklagt werden.«
Alexandra wiegte den Kopf hin und her. »Derzeit deutet immer mehr darauf hin, dass es kein Unfall war, und es gibt einen bunten Kreis von Verdachtigen.«
»Tatsachlich?«, fragte Bruder Johannes, und in seine Augen trat ein neugieriges Glitzern.
»Na ja, wir nehmen an, dass der Tater im Kreise der Mitarbeiter zu suchen ist. Einige von ihnen hatten durchaus ein Motiv gehabt, Wilden aus dem Weg zu raumen.«
»Aber sicher nicht dieser Herr Assmann, der heute Nachmittag hier eingetroffen ist, oder?« Bruder Johannes sah gespannt von einem zum anderen.
»Apropos eingetroffen«, sagte Tobias, der seltsam abgelenkt wirkte. »Wussten Sie eigentlich, dass Bernd Wilden bereits am Donnerstag in Lengenich gesehen wurde?«
»Nein. Er hat definitiv erst am Freitagmorgen bei uns eingecheckt.«
»Dann hat er irgendwo anders ubernachtet«, uberlegte Tobias laut. »Aber wo konnte das gewesen sein?«
Bruder Johannes winkte ab. »Versuchen Sie gar nicht erst, das herauszufinden! Im Umkreis von wenigen Kilometern gibt es einige Dutzend private Unterkunfte, sodass Sie tagelang damit beschaftigt waren, die alle abzuklappern.«
Tobias zog einen Mundwinkel nach unten und gab einen resignierten Laut von sich.
»Wieso sagen Sie, dass Assmann kein Motiv gehabt haben konnte?«, griff Alexandra den verlorenen Gesprachsfaden wieder auf.
»So sehr, wie er sich uber den Tod von Herrn Wilden aufgeregt hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass er damit etwas zu tun hat. Er war au?er sich und hat jedem von uns die schlimmsten Vorwurfe gemacht. Bernd Wilden muss ihm als Mensch und als Vorgesetzter sehr viel bedeutet haben.«
»Das stimmt wohl.« Alexandra hob unschlussig die Schultern. »Er hat ihm nachgeeifert, allerdings in einer ma?losen Form, so als wollte der Schuler den Meister noch ubertreffen. Und au?erdem bleiben Ungereimtheiten. Mit seinem Gehalt kann Assmann seine Anzuge und den Wagen, den er fahrt, jedenfalls nicht finanzieren. Also konnte er es auf Wildens Posten abgesehen haben.«
»Oh, das habe ich nicht bedacht«, sagte der Monch betroffen.
»Kurt Assmann ist zwar erst heute Nachmittag hier eingetroffen, aber solange wir keine Ahnung haben, wo er sich zwischen Freitagabend und Samstagmorgen aufgehalten hat, kommt er als moglicher Tater infrage.« Nach einer kurzen Pause fugte sie hinzu: »Das ware naturlich etwas, was Herr Pallenberg uberprufen musste, weil dafur die Polizei in Kaiserslautern hinzugezogen werden muss. Doch der gute Mann hat ja vorgezogen, das Wochenende ganz in Ruhe zu verbringen.«
»Daruber bin ich auch nicht glucklich«, stimmte Bruder Johannes ihr zu. »Aber wahrend Sie unterwegs waren, habe ich ein wenig herumtelefoniert, und es ist tatsachlich so, dass durch diese Demonstration in Trier die halbe Eifel polizeilich unterversorgt ist. Ich konnte niemanden erreichen, der bereit gewesen ware, Pallenberg dazu zu verdonnern, sich sofort um die Sache zu kummern.«
Alexandra nickte. Dass sie mit ihren Bemuhungen diesbezuglich ebenfalls gescheitert war, behielt sie fur sich.
»Ich ware dann fertig, Bruder Johannes«, meldete sich in diesem Moment Bruder Andreas zu Wort, der bis jetzt an seinem Schreibtisch gesessen hatte und in seine Arbeit vertieft gewesen war.
»Ah, wunderbar!« Bruder Johannes griff nach der Fernbedienung fur den Fernseher, als er auf einmal stutzte. »Lieber Himmel, wo habe ich denn blo? meine Manieren gelassen! Sie sitzen hier stundenlang auf dem Trockenen, dabei wollte ich Ihnen doch eine ganz besondere Spezialitat anbieten.« Er stand auf und ging zu einer Kuhltasche. Kurz darauf kam er mit vier Bierflaschen zuruck, von denen er eine Bruder Andreas reichte. »Die hast du dir mehr als verdient«, merkte er an und stellte die anderen drei auf den niedrigen Tisch vor der Sitzgruppe. Nachdem er noch vier Bierglaser geholt hatte, nahm er wieder Platz und hielt eine der Flaschen hoch. »Das ist ein sogenanntes Trappistenbier, ein Duc de Walthery, das uns von einer Abtei in Belgien in der Nahe von Luttich geliefert wird, die dieses Bier seit 1609 braut. Obwohl wir keine Trappisten sind, durfen wir ausnahmsweise das Bier hier weiterverkaufen. Unser Gluck ist, dass ein Bruder von Bruder Jonas in der belgischen Abtei lebt. Er hat dafur gesorgt, dass wir eine Verkaufslizenz von der Abbaye de Walthery erhalten haben. Normalerweise darf ein Trappistenbier nur in der unmittelbaren Umgebung des jeweiligen Klosters verkauft werden.«
»Wie kommt es, dass Sie kein eigenes Bier brauen?«
Bruder Johannes zuckte mit den Schultern. »Wir haben ja nicht einmal das Geld, um die Kapelle aus eigenen Mitteln zu renovieren. Wie sollten wir da eine eigene Brauerei finanzieren?«
»Ja, die Kapelle wollte ich mir ja auch noch ansehen«, warf Alexandra ein und machte sich diesbezuglich eine Notiz.
»Tut mir leid, aber das geht nicht. Sie ist zurzeit eine einzige gro?e Baustelle. Auch wenn die Bauarbeiten momentan ruhen.«
»Wieso?«
»Weil die Bank den Kredit fur die Renovierung nur happchenweise freigibt.« Bruder Johannes seufzte frustriert. »Wenn drei Raten fur den Hauptkredit punktlich gezahlt worden sind, erhalten wir das nachste ›Happchen‹ und konnen die Handwerker wieder herbeordern, damit sie weiterarbeiten.« Er legte den Kopf leicht schrag. »Ich habe naturlich auch Verstandnis fur die Vorgehensweise der Bank, und ich bin guter Dinge, dass wir bald in kurzeren Abstanden diese Gelder zugeteilt bekommen, wenn sich unsere Zahlen weiter so entwickeln.«
Er offnete vorsichtig den Bugelverschluss einer Bierflasche. Ein leises Zischen verriet das Entweichen der Kohlensaure. Dann schenkte er Alexandra ein.
»Bitte nur ein halbes Glas. Ich trinke selten Alkohol, und wenn ich das Etikett richtig deute, dann ist das ein ziemlich starkes Bier«, sagte sie.
»Ja, der Alkoholgehalt liegt bei fast zwolf Prozent, das ist in etwa die Obergrenze«, bestatigte der Monch. Tobias wollte nach der Flasche greifen, doch der Monch hielt ihn zuruck. »Bitte nicht. Ein solches Bier muss man sehr vorsichtig einschenken, sonst kann es passieren, dass der Hefesatz im Glas landet, und das wurde Ihnen gar nicht gefallen, das konnen Sie mir glauben. Als ich heute Nachmittag gehort habe, dass Sie noch mit mir reden wollen, habe ich ein paar Flaschen aus dem Keller geholt, deshalb auch die Kuhltasche, damit das Bier nicht warm wird. Im Kuhlschrank da druben kann man es bedauerlicherweise nicht lagern, weil es dort zu kalt ist und das Bier dadurch trub wurde.«
Als Bruder Johannes allen eingeschenkt hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zuruck. »Und jetzt mussen Sie sich noch ein paar Minuten gedulden. Das Bier muss erst eine Weile atmen, sonst kann sich das Aroma nicht entfalten.«
Alexandra, die sich bei diesen Ausfuhrungen allmahlich zu langweilen begann, verdrehte im Stillen die Augen.
Auf das Zeichen des Monchs hin griff sie wenig spater nach ihrem Glas und trank einen Schluck Bier. »Uuuh«, machte sie und zog anerkennend eine Augenbraue hoch. »Das nenne ich wirklich stark, aber sehr … angenehm«, fugte sie schnell hinzu, um Bruder Johannes nicht zu enttauschen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Tobias’ Mund zu einem amusierten Grinsen verzog. »Weswegen wir jedoch eigentlich hier sind … Bruder Andreas hat doch inzwischen die Orts-und Zeitangaben der Monche und der Gaste erfasst …«
Bruder Johannes lachte und schlug sich mit der Hand leicht gegen die Stirn. »Ja, naturlich.« Er nahm die Fernbedienung an sich und schaltete den Fernseher ein. »Das Gerat ist mit den Computern da druben verbunden. Auf dem gro?en Bildschirm konnen wir besser sehen, was Bruder Andreas uns zeigen mochte.«
Alle sahen gebannt auf den Fernsehbildschirm. Ein Grundriss des Klosterhotels nahm Gestalt an; in einer Ecke wurde eine Uhr angezeigt, die in Funfminutenintervallen umsprang, wahrend sich zahlreiche Lichtpunkte durch den Grundriss bewegten.
Bruder Andreas hielt das Bild an und bewegte die Maus uber die Anzeige auf dem Bildschirm. »Was Sie jetzt sehen, ist ein Zeitrafferfilm, der alle Eingaben gleichzeitig darstellt. Jeder Punkt auf dem Grundriss steht entweder fur die Person, die fur den fraglichen Zeitpunkt ihre Bewegungen durch das Gebaude so beschrieben hat, oder fur die Monche und Gaste, die diese Person dabei gesehen haben. Dieses Gesamtbild ist naturlich unubersichtlich,