»Na, dein Therapeut wird dir schon daruber hinweghelfen.«

Er winkte ab. »Ich brauche keinen Therapeuten, aber der Kerl braucht mal eine Abreibung, damit er endlich merkt, dass er nicht der wichtigste Mensch auf der Erde ist.«

Sie sah zu der Tur, hinter der sich Wildens Zimmer befand. »Was hat er noch mal gesagt? Er ist Geschaftsfuhrer bei einem Wohlfahrtsverband. Ich schatze, in seinem Job verhalt er sich den ganzen Tag so. Bestimmt geht er von Buro zu Buro, macht seine Leute zur Schnecke, setzt sich dann an seinen gigantischen Schreibtisch und ist sehr zufrieden mit sich, weil er es mal wieder allen gezeigt hat.«

Tobias grinste. »Ja, und zu Hause wartet seine Frau auf ihn, unter deren Fuchtel er steht und die ihn das ganze Wochenende triezt: ›Bring den Mull raus … Mah den Rasen … Schneide die Hecke …‹ Am Montagmorgen lasst er seinen Frust dann wieder an dem erstbesten Mitarbeiter aus, der ihm uber den Weg lauft.«

Plotzlich miaute der Kater, der auf den Gang gekommen war und erwartungsvoll zu Alexandra aufsah.

»Nein, wir haben dich nicht vergessen«, versicherte sie ihm und ging in die Hocke, um ihn zu kraulen. »Der bose Mann von gegenuber hat uns nur gestort.«

»Ahm … du wei?t, dass du ein Tier vor dir hast, aber keinen Dreijahrigen, oder?«

Sie schenkte Tobias ein ironisches Lacheln. »Im Augenblick habe ich beides vor mir – hier ein Tier und da einen Dreijahrigen.«

4. Kapitel

»Und was mache ich jetzt mit dir?«, fragte Alexandra den Kater, nachdem sich Tobias lachend in sein Zimmer verzogen hatte. Kater Brown hatte sich inzwischen hingelegt und auf den Rucken gedreht, damit Alexandra ihm den Bauch streicheln konnte. Eine Zeit lang tat sie ihm den Gefallen, doch als sie dann die Hand wegziehen wollte, schossen seine Vorderpfoten vor, legten sich sanft um ihr Handgelenk und dirigierten ihre Finger zuruck zu seinem Bauch. Dabei schnurrte er genie?erisch.

»Okay, aber im Gegensatz zu dir bin ich nicht nur zum Vergnugen hier«, sagte sie, traf jedoch mit ihrer Bemerkung auf taube Ohren. Der Kater rakelte sich auf dem kuhlen Steinboden und konnte offenbar einfach nicht genug bekommen. Nach einer Weile setzte er sich auf und begann, sich zu putzen.

»Tja, sieht so aus, als hattest du erst mal genug Streicheleinheiten bekommen«, murmelte sie und richtete sich auf. Sofort sprang der Kater auf und folgte Alexandra in ihr Quartier. Dort machte er es sich auf der Fensterbank gemutlich und beobachtete jede ihrer Bewegungen.

Das Zimmer war wirklich winzig, die Einrichtung spartanisch: ein einfacher Stuhl, ein kleiner Schreibtisch, ein schlichtes Bett, in einer Ecke ein Schrank, in dem man seine notigsten weltlichen Besitztumer unterbringen konnte. Auf der anderen Seite war eine schmale Kabine abgeteilt worden, die gerade eben Platz fur eine Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette bot. Das einzige Zugestandnis an die Tatsache, dass es sich bei dieser Kammer heute um ein Hotelzimmer handelte, war das Telefon auf dem Schreibtisch. Einen Fernseher oder einen Radiowecker suchte man vergeblich. An der Decke hing eine nackte Energiesparlampe.

»Eine Gefangniszelle ist vermutlich ahnlich komfortabel eingerichtet«, stellte Alexandra ernuchtert fest. Der kurze Blick in das Zimmer ihres Kollegen hatte sie erkennen lassen, dass es auch nicht besser ausgestattet war, sondern lediglich um gut die Halfte gro?er.

Sie packte ihre Tasche aus und verstaute alles im Schrank. Immerhin lie? er sich abschlie?en, sodass sie dort auch ihren Laptop und andere Wertgegenstande unterbringen konnte, wenn es erforderlich sein sollte.

Kater Brown lag nach wie vor auf der Fensterbank und beobachtete Alexandra aufmerksam.

»Ist das hier sonst dein Zimmer?«, fragte sie. Der Kater sah sie mit gro?en grunen Augen an, lie? die flaumigen schwarzen Ohren spielen und fuhr sich mit der kleinen rosa Zunge uber die Schnauze, als erwartete er von Alexandra irgendein Leckerli.

Plotzlich kam ihr ein beunruhigender Gedanke. Was, wenn dieses Hotel so authentisch ein Klosterleben simulierte, dass es zum Abendessen nur irgendeine wassrige Suppe mit einer kargen Gemuseeinlage gab? Alexandra hatte am Morgen zum letzten Mal etwas gegessen und nach der Irrfahrt durch die Eifel auf ein Mittagessen in einer Gaststatte verzichtet, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Die Vorstellung, nichts weiter als eine dunne Suppe zu essen zu bekommen, war au?erst unerfreulich.

Sie sah auf die Armbanduhr. Kurz vor halb drei. Vielleicht sollte sie sich gleich in Richtung Luxemburg auf den Weg machen und nach einem Supermarkt suchen, um sich fur den Abend mit ein wenig Verpflegung einzudecken. »Und was fange ich solange mit dir an?«, fragte sie den Kater. »Soll ich dich hier allein lassen, oder kommst du mit nach drau?en?« Sie ging zu ihm und warf an ihm vorbei einen Blick aus dem geoffneten Fenster, von dem aus sie freie Sicht auf das weitlaufige grune Tal im Hintergrund hatte, das im Sonnenschein erstrahlte. Gleich vor dem Fenster ging es einige Meter steil in die Tiefe, was Alexandra stutzig machte. Sie wusste zwar, dass Katzen ausgezeichnet springen konnten, aber diese Hohe erschien ihr doch etwas zu erheblich, um von einem Kater in einem einzigen Satz uberwunden zu werden.

Sie beugte sich weiter vor und entdeckte des Ratsels Losung: Etwa einen halben Meter unter dem Fenster verlief ein Mauervorsprung, gerade breit genug, dass sich eine Katze darauf fortbewegen konnte. Er war allerdings leicht abgerundet, sodass ein Einbrecher sich kaum daran wurde festhalten konnen, um sich nach oben zu ziehen und ins Zimmer einzusteigen. Also konnte sie getrost das Fenster offen lassen, damit Kater Brown auch noch einen Weg ins Freie fand, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte.

Doch diese Rechnung hatte sie ohne den Kater gemacht. Gerade als Alexandra die Tur schlie?en wollte, sprang er von der Fensterbank, hastete durchs Zimmer und zwangte sich durch den Turspalt. »Oh, du hast es dir also doch noch anders uberlegt«, sagte sie und schloss ab.

Kater Brown strich um ihre Beine herum, dann legte er sich auf die Fensterbank am Ende des Korridors und schlug die Pfoten unter.

Alexandra kraulte ihn noch einen Moment und machte sich schlie?lich auf den Weg.

Kater Brown blieb liegen und sah der Frau mit den langen blonden Haaren nach, wie sie sich langsam entfernte. Er mochte sie, auch wenn sie sich zuerst vor ihm erschreckt hatte. Aber sie war nett und hatte ihn ausgiebig gekrault. Dazu hatte sie sich sogar extra neben ihn gehockt. Die meisten Menschen buckten sich nur kurz und tatschelten ihm den Kopf, blieben aber dabei diese gro?en Gestalten mit den langen Beinen, mit denen sie oft ziemlich unvorsichtig umgingen, wenn er ihren Weg kreuzte. Doch die blonde Frau war sehr umsichtig mit ihm gewesen.

Vielleicht wurde er sie ja in den Keller fuhren konnen, um ihr seine Entdeckung zu zeigen. Mit ein bisschen Gluck wurde diese Frau verstehen, was er von ihr wollte.

Kater Brown kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und beschloss, erst einmal eine Weile zu dosen.

Jenseits der luxemburgischen Grenze entdeckte Alexandra am Rande des verschlafenen Dorfchens Vianden einen kleinen, aber gut sortierten Supermarkt, in dem sie sich zunachst mit Sandwiches, Kartoffelsalat und einigen Tuten Chips eindeckte, ehe sie zur angrenzenden Tankstelle fuhr, um den Wagen vollzutanken.

Der Mann an der Kasse legte die Zeitung zur Seite, in der er geblattert hatte, nahm ihre Kreditkarte entgegen und zog sie durch das Lesegerat. Doch es tat sich nichts. Nur die Anzeige Bitte warten blinkte immer wieder auf.

»Ist ja typisch«, murmelte der Tankwart und wiederholte die Prozedur. »Ab Freitagnachmittag schaltet das Rechenzentrum auf Wochenende um, und ich kann zusehen, wie ich hier mit meiner Kundschaft klarkomme.«

»Na ja, auf ein paar Minuten kommt es mir nicht an«, sagte sie und betrachtete weiter die blinkende Bitte warten-Anzeige.

»Und?«, fragte er. »Mussen Sie heute noch zuruck nach Dusseldorf?« Mit einer Kopfbewegung deutete der Tankwart auf ihren Wagen. Offenbar hatte er das Kennzeichen gesehen.

»Nein, zum Gluck nicht. Von dort bin ich heute Vormittag erst aufgebrochen, und die Fahrt bis zum Klosterhotel hat mir gereicht.«

Der Mann verzog die Mundwinkel. »Oh, Sie sind bei den Scheinheiligen abgestiegen.«

»Den Scheinheiligen?«, wiederholte sie neugierig. »Wie meinen Sie das?«

»Na, sehen Sie sich den Verein doch mal an!«, ereiferte er sich so plotzlich, als hatte er nur auf eine

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