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FREUNDSCHAFT, ZUSAMMENARBEIT UND DENGUEFIEBER

Einst war Herr Watajak Fruhaufsteher gewesen. In der Provinz diktierte die Sonne, wann man zu Bett zu gehen und wann man aufzustehen hatte. Bauern besa?en eine etwas feinere innere Uhr, die ihnen sagte, wenn uber dem Irrawaddy-Delta die Dammerung anbrach, eine Stunde bevor sie Laos erreichte. Und so schufteten sie langst auf ihren Feldern, wenn das erste Morgenlicht uber die Hugel kroch. Aber der Reiswhisky lie? die Zahnrader von Herrn Watajaks innerer Uhr zusehends verrosten. Als er an diesem Morgen schwei?gebadet erwachte, brannte die Sonne bereits auf die Ostwand seiner alten Hutte. Er war allein. Sofort packte ihn die Sauferpanik. »Was ist denn hier los?«

Inzwischen war er es gewohnt, den Dummkopf um sich zu haben, der die Nachbarn anzog, kluge Spruche klopfte, allmahlich zu Kraften kam und ihn zum Lachen brachte. Insgeheim hatte der alte Herr Watajak Gefallen an dem Jungen gefunden. Er spielte mit dem Gedanken, ihn bei sich zu behalten. Geung war ein strammer Bursche. Vielleicht konnte er einige der Reisfelder neu bestellen, falls der Regen jemals kam. Oder sogar eine Fischfarm eroffnen und damit gutes Geld verdienen. Es gab jede Menge Moglichkeiten, und doch war die Bambushutte bis auf Herrn Watajak leer. Das machte ihn so wutend, dass er erst einmal etwas trinken musste. Und nach den ersten Schlucken erinnerte der Schnaps ihn daran, wie einsam er doch war. Der kleine Dummkopf wurde ihm fehlen.

Sie hatten es ihm gesagt. Alle hatten es gesagt. Die Nachbarn, die Touristen und die Kinder aus der Tempelschule. Er hatte sie immer wieder gefragt, weil ihm »zwanzig Meilen« als Antwort nicht genugte. Unter zwanzig Meilen konnte er sich wenig vorstellen. »Eine halbe Ewigkeit«, »noch ein paar Tage und ein paar hundert Muckenstiche« oder »langer, als eine Leiche zum Verwesen braucht«, ware ihm lieber gewesen. Inzwischen konnte Herr Geung ihnen die Namen samtlicher Ortschaften nennen, durch die er auf seinem Weg gekommen war, wenn er sich nicht sogar an die Namen all derer erinnerte, die nett zu ihm gewesen waren, und an die Namen ihrer Kinder. Aber er begriff beim besten Willen nicht, was es mit den zwanzig Meilen auf sich hatte und wann er endlich im Leichenschauhaus eintreffen wurde, wo in der Zwischenzeit bestimmt allerhand passiert war.

Sie hatten ihm gesagt, das spiele keine Rolle. Sie konnten ihn in den Bus setzen oder einen Lastwagen anhalten. Sobald er nach Vientiane aufbrechen wolle, sei es ein Kinderspiel, ihm eine Mitfahrgelegenheit zu besorgen. Doch aus irgendeinem Grunde erstaunte es die Leute nicht allzu sehr, dass sie ihn an diesem Morgen nicht zu Hause antrafen. Es war der gro?e Tag der Unterzeichnung des Vertrages mit den Vietnamesen, und die Regierung hatte einen zweitagigen Feiertag ausgerufen. Der Vater konnte ihnen nicht sagen, wohin sein genialer Sohn verschwunden war, und in seinem Suff schien es ihn auch nicht sonderlich zu interessieren.

Geung war in aller Fruhe losmarschiert. Die Sonne stand hinter seiner linken Schulter, und er wanderte am Stra?enrand entlang. Es war sicherer, zu Fu? zu gehen. Immer wenn ihn ein Fahrzeug mitgenommen hatte, war es in die falsche Richtung gefahren. Das gab nur unnotige Scherereien. Nein, von Autos und Lastwagen hatte Herr Geung die Nase voll. Er war bereit fur seine letzte Prufung. Die Schulter tat ihm nicht mehr weh. Seine Blasen waren abgeheilt, seine Muskeln ausgeruht. Seine Haut hatte sich von seinem Sonnenbrand erholt, und er konnte wieder horen.

Sein Gewissen plagte ihn, weil er so lange in Thangon geblieben war. Der alte Mann, sein Vater, betrubte ihn, auch wenn er nicht recht wusste, weshalb. Eine innere Stimme hatte ihm zum Bleiben geraten. Es war eine andere Stimme als jene, die ihn unablassig an sein Versprechen und seine Verpflichtungen erinnerte. Die vergangenen paar Tage hatten Geung verwirrt. Er wusste nicht, auf welche Stimme er horen sollte. Dann kehrte Dtui zuruck. Er war au?er sich vor Freude. Sie half ihm auf die Sprunge.

Sie erinnerte ihn an das, was man Liebe nennt. Daruber sprach sie oft und gern. Sie erklarte ihm, gerade in Zeiten, in denen es nahezu unmoglich scheine, jemanden zu lieben – Zeiten, in denen einem eher nach Hass und Ablehnung zumute ist -, gerade in diesen Zeiten sei die Liebe bitter notig. Sie erklarte ihm, sein Vater habe seine Liebe verdient. Er musse sie sich nicht erarbeiten. Er gehore schlie?lich zur Familie, und in einer Familie bekamen alle ihren Anteil Liebe, allein weil sie verwandt seien. Geung fragte sich, wann er seinen Anteil erhalten wurde. Aber vielleicht musste man ja erst etwas geben, um etwas zu bekommen. Seine Vater hatte nichts. Das war selbst Geung nicht entgangen. Da konnte er bestimmt eine Kleinigkeit gebrauchen. Darum hatte Geung seinen betrunkenen Vater am Vorabend der letzten Etappe seines langen Marsches auf die Stirn gekusst und ihm gesagt, dass er ihn liebte.

Der verwirrte Mann hatte seinen schwachsinnigen Sohn angewidert von sich gesto?en und die zartliche Geste weggewischt wie ein schleimiges Insekt. Er warf seinem Sohn Dinge an den Kopf, die ihn hatten treffen konnen, ihr Ziel jedoch verfehlten. Geung erklarte ihm, wie stolz er auf seinen intelligenten Vater sei, der ihn einmal monatlich besuche, um ihn mit Neuigkeiten zu versorgen und sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen. Als er sich schlie?lich schlafen legte, sah er dem Alten an, dass ihm das zu denken gegeben hatte. Er vergoss sogar die eine oder andere Trane, aber das mochte am Reiswhisky liegen.

Mit gestarktem Selbstbewusstsein ging Geung weiter, in der sicheren Gewissheit, dass er schon bald seine vertraute Umgebung wiedersehen wurde. Er hoffte, dass die Ubelkeit, die immer wieder in ihm aufstieg, nachlassen wurde, doch diese Hoffnung erfullte sich nicht. Auch seine Kopfschmerzen wollten einfach nicht vergehen. Funf Tage war es her, dass ihn die Dengue-Mucke gestochen hatte, und heute wurde das Fieber kommen. Das Virus in seinem Blut hatte sich vermehrt, und langsam schwoll sein Zahnfleisch an.

In Vientiane wurde ein Federhalter einmal kurz geschuttelt, um die Tinte zum Flie?en zu bringen, und setzte sodann mit leisem Kratzen die Namen samtlicher Delegierten unter den Vertrag uber Freundschaft und Zusammenarbeit, der den Laoten weitere funfzig Jahre Knechtschaft garantierte. Noch bevor die Tinte auf dem Pergament getrocknet war, wurden die Anwesenden in Militartransportern zum Flughafen chauffiert, daselbst in Helikopter der Luftwaffe verladen und nach Houaphan geflogen. Dort wurden sie koniglich bewirtet (auch wenn dieses Adverb niemand auszusprechen wagte). Gegen sieben Uhr abends entschieden sie, welches graue Safarihemd sie anziehen sollten, genehmigten sich einen letzten Cocktail und gingen zu Fu? zur Konzerthohle, um sich die spektakularen Darbietungen vietnamesischer Kunstler anzusehen.

Von alldem ahnte Herr Geung naturlich nichts. Er wusste nur, dass das Leichenschauhaus seit Gott wei? wie vielen Tagen nicht gefegt worden war. Die Kuchenschaben bevolkerten vermutlich den Seziersaal, vor der Tur stapelten sich die Leichen, und das alles nur, weil Herr Geung sein Wort gebrochen hatte. Unverzeihlich. Vollkommen unverzeihlich. Welche Strafe ihn auch erwarten mochte, er hatte sie verdient. Er sank auf die Knie und erbrach sich in die schlanke Rutenhirse am Stra?enrand.

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EIN IRRTUM KOMMT SELTEN ALLEIN

Heute fand das Konzert statt. Obwohl sie den Tater schon am Abend zuvor hatten dingfest machen konnen, kamen Siri und Dtui uberein, noch einen Tag zu bleiben und weitere Ermittlungen anzustellen, um auch die letzten Zweifel auszuraumen. Au?erdem erwartete Siri einen wichtigen Anruf aus Vientiane. Die Leiterin des Gastehauses war am Boden zerstort, als sie erfuhr, dass der alte Arzt und die dicke Krankenschwester noch da waren und zwei wertvolle Zimmer belegten. Zum Gluck hatten sie das »Beweisstuck« fortgeschafft, denn sie wusste nicht, wie sie dem Genossen Khong aus Vientiane das hatte erklaren sollen.

Am Vortag hatte Dtui die kleine Panoy in ihr Dorf zuruckgebracht. Damals hatte die gro?e Landflucht noch nicht eingesetzt, und das Wort »Nachbarn« bedeutete mehr als nur »die Leute nebenan«. Gegenuber von Panoys Mutter wohnte eine Frau, die durch denselben Konflikt zur Witwe geworden war, der Panoys Vater das Leben gekostet hatte. Sie nahm Dtui das Madchen ab, als stunde es ganzlich au?er Frage, wo es leben und aufwachsen wurde. Ohne gro?e Umstande hatte das Dorf die Lucke in Panoys Leben ausgefullt wie wei?e Blutkorperchen, die eine Wunde schlie?en, ohne eine Narbe zu hinterlassen. Ohne Debatte, ohne Diskussion.

Dtuis Bewunderung fur diese Menschen kannte keine Grenzen. Ihre Mutter war einst eine von ihnen gewesen. Auch Dtui war in einem solchen Dorf zur Welt gekommen, hatte aber keinerlei Erinnerung daran. Dies war ihr Land. Und dies war ihr Volk: freundliche, selbstlose, ehrliche Menschen. Neunzig Prozent aller Laoten bestellten den Boden und setzten sich fureinander ein. Dtui sa? unter einer Markise auf dem Platz inmitten dieses

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